Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht auf aljazeera.com (7.Juni 2014). Autorin: Sonja Dolinsek
Am 12. Juni begann die Männer-Fußball-WM und Millionen von Fußball-Fans werden zu diesem Mega-Event nach Brasilien reisen. In der Zwischenzeit haben sich Nichtregierungsorganisationen und Medien auf die sozialen Probleme konzentriert, die sich durch die Vorbereitungen für die Veranstaltung verschärfen.
Drei verwandte Themen haben in den letzten Wochen besondere Aufmerksamkeit erhalten: Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Sexarbeit. Es wird angenommen, dass alle drei in den kommenden Wochen zunehmen. Aber belegen die Forschung und die Erfahrung von anderen derartigen Megasportveranstaltungen tatsächlich die Behauptungen einer Zunahme des Menschenhandels und der Prostitution? Und welche anderen Fragen sollten wir aus einer Menschenrechtsperspektive betrachten?
Menschenhandel und seine Verknüpfung mit Sportveranstaltungen sind seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland diskutiert worden. Große und teure Medienkampagnen warnten vor dem wachsenden Problems des Menschenhandels mit erwachsenen Frauen in die Sex-Industrie. Seitdem waren Medien- und NGO-Kampagnen vor und rund um den Welt-und Europa-Fußballmeisterschaften, den Olympischen Spielen und dem Super Bowl besonders sichtbar. Was lernen wir aus vergangenen Erfahrungen und der Forschung zu dieser Verknüpfung?
Frauenhandel und Sportveranstaltungen
Rückblickend sehen wir nicht nur, dass die vor der Veranstaltung in den Medien verbreiteten Schätzungen der Opfer von Menschenhandel sowohl für Südafrika als auch für Deutschland genau die gleichen waren (40.000 Opfer), sondern auch, dass es nach beiden Veranstaltungen keine Beweise für diese Zahlen gab.
In Deutschland betonte das Bundeskriminalamt, dass nur fünf Fälle von Menschenhandel mit der WM in Zusammenhang gebracht werden konnten. Gleichzeitig betonte der offizielle BKA-Bericht, dass viele der Prostitutionsmigrant*innen, die in der Hoffnung nach Deutschland gekommen waren, mehr Geld zu verdienen, früher wieder abreisten, da es weniger Nachfrage gab als sie erwartet hatten.
Das Gleiche gilt für Südafrika, wo sich „die Vorhersage eines zunehmenden Menschenhandels als eine grobe Überschätzung erwies, die auf unbegründete Befunde basierte“, wie der Dokumentarfilm „Don’t shout too loud“ gezeigt hat.
In dem Bericht „Welche Kosten hat ein Gerücht?“ (What’s the cost of a rumour?) hat die Globale Allianz gegen Frauenhandel, (GAATW – Global Alliance Against Traffic in Women) mit Sitz in Bangkok auf verbreitete Fehler in Kampagnen gegen Menschenhandel hingewiesen. Sie kritisierte auch den Anstieg der unkritischen Berichterstattung über Anti-Menschenhandelsaktionen rund um Sportveranstaltungen als kontraproduktiv und sogar schädlich.
Nicht nur gebe es keinen empirisch belegten Zusammenhang zwischen großen Sportveranstaltungen und einem Anstieg des Menschenhandels, sondern „Menschenhandel ist nicht das gleiche wie Sexarbeit“. Der Bericht weist darauf hin: „Es gibt einen Unterschied zwischen Frauen, die in die Prostitution gehandelt wurden, und Sex-Arbeiter*innen, die in andere Länder migrieren, um zu arbeiten.“
Außerdem haben falsche Gerüchte über Menschenhandel einen Preis. Es werden nicht nur wertvolle Ressourcen mit sensationslüsternen Kampagnen verschwendet, statt soziale Projekte vor Ort zu fördern, sondern Maßnahmen gegen Sexarbeit und Migration, einschließlich der erhöhten Polizeiüberwachung von Sexarbeiter*innen, werden gefördert. Diese Maßnahmen erhöhen jedoch die Verletzbarkeit von Migrant*innen in der Sexarbeit. Im allgemeinen ähnelt Darstellung von Menschenhandel eher einem Mythos als der Realität vor Ort.
Eine weitere aktuelle Studie wies auf fehlende empirische Daten über den Zusammenhang zwischen großen Sportveranstaltungen und sexueller Ausbeutung von Kindern hin. Der Bericht weist darauf hin, dass „die meiste Aufmerksamkeit auf Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Kindern gerichtet wird, obwohl Arbeit und Vertreibung wahrscheinlich größere Probleme darstellen.“ Sexuelle Ausbeutung von Kindern hat weniger mit solchen Ereignissen zu tun, sondern mit „reduzierten Unterstützungsangeboten, Stress in der Familie, Armut und häuslicher Gewalt“, also strukturellen Faktoren, die vor den Sportveranstaltungen existierten und die es danach weiterhin geben wird.
Die Tatsache, dass empirische Daten die Behauptung eines steigenden Menschenhandels oder der sexuellen Ausbeutung von Kindern nicht bestätigen, bedeutet jedoch nicht, dass wir einfach wegschauen können. Es bedeutet eher, dass wir einen breiteren Blick auf soziale Probleme richten sollten und nachhaltigere und langfristigere Lösungen in Blick nehmen sollten, die jenseits eines kurzfristigen Medien-Hypes liegen.
Die WM aus sozialer und menschenrechtlicher Sicht
Ein neuerer Artikel der WELT über sexuelle Ausbeutung von Kindern in Brasilien beginnt mit der Beschreibung einer sexuellen Begegnung zwischen einer Sexarbeiterin, die eine ehemalige „Kinderprostituierte“ war, und einem Kunden. Eine solche Szene kann zwar die Leser*innen dazu ermutigen, den ganzen Artikel zu lesen, aber damit sexualisieren die Autor*innen das Thema unnötig und erzeugen eine leicht erregende Wirkung bei einem eher ernsten Thema. Außerdem verpassen sie es, Verletzungen von Kinder-und Menschenrechten zu thematisieren, die schon in den Jahren vor der Weltmeisterschaft stattgefunden haben.
Wie das deutsche Büro von Ecpat betont, ist die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern bereits ein riesiges Problem, und selbst wenn das Risiko der Ausbeutung während der WM höher ist, gibt es keine empirischen Daten, die eine solche Erhöhung bei Sportveranstaltungen bestätigen. Der Schwerpunkt sollte daher vielmehr auf den sozialen Hintergrund der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern liegen, die teilweise auf Armut und das Fehlen eines menschenwürdigen Wohnraums für für Kinder zurückzuführen ist.
Ein oft übersehener, aber wesentlicher Aspekt des erhöhten Risikos für Kindern, sexuell ausgebeutet zu werden, ist die erzwungene Vertreibung von Menschen und Familien aus ihren Häusern im Zusammenhang mit der so genannten „Befriedung“ der Favelas oder Slums. „Befriedung“ ist eine Polizei-Strategie, die in militärischem Stil durch sogenannte „Polizei Befriedungseinheiten“ durchgeführt wird, um Kriminalität zu reduzieren, das öffentliche Bild von Rio de Janeiro zu verbessern und die Gebiete in der Nähe von Veranstaltungsorten zu sichern.
Wissenschaftler*innen und NGOs betonen, dass diese Maßnahme nicht nur zu einer militarisierten Überwachung der Favelas – den informellen Siedlungen, die rund 22 Prozent der Bevölkerung von Rio unterbringen – sondern auch zur Vertreibung von vielen Einwohner*innen führten, darunter auch Kinder. Unabhängige Experten der Vereinten Nationen berichteten über „Vorwürfe von Zwangsräumungen ohne Gerichtsverhandlungen oder zum Nachteil internationaler Menschenrechtsstandards“.
Das „Shift“-Fotoprojekt hat große Bau-Projekte für die Weltmeisterschaft und ihre Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung und die Stadtgeographie dokumentiert. Es wurde festgestellt, dass auch Reserven für einige indigene Gruppen beschnitten wurden – mit anschließenden Protesten.
Unterkünfte von Sexarbeiter*innen in Niteroi wurden gewaltsam von der Polizei durchsucht und einige wurden zwangsgeräumt. Andere Bewohner*innen, darunter ältere Menschen und Kinder, wurden auf die Straßen getrieben. Angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Brasilien, sollten wir die brasilianische Regierung dazu bewegen, ihre Polizeiaktionen gegen Sexarbeiter*innen zu beenden, anstatt sie aufzustocken. Ebenso sollten sich die Medien auf eine rechtebasierte Berichterstattung über Prostitution und Sexarbeit in Brasilien konzentrieren, anstatt unrealistische Zahlen zu einem Anstieg der Migrant*innen in der Sexarbeit zu präsentieren, die sich als unbegründet erwiesen haben.
Zuletzt beruhen große Sportereignisse wie die Fußball-WM auf einer große Vielfalt von Arbeit – von Baustellen, Gastronomie und anderen Dienstleistungen auf lokaler Ebene bis hin zu den Lieferketten dieser Dienste sowie der Herstellung von Waren, Sportartikeln und Uniformen. Menschen-und Arbeitsrechtsverletzungen können in jeder Phase in diesem Prozess auftreten und nicht nur bei den End-Benutzer*innen.
Um diese Probleme anzugehen, brauchen wir einen nachhaltigen Ansatz mit einer breiteren Perspektive über den Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverletzungen und Megasportveranstaltungen. Dies umfasst nicht nur Blick auf Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung, sondern auch auf Arbeits-, Menschen- und Kinderrechte. Insbesondere sollte ein stärkerer Fokus auf die Rechte der Opfer von Menschenhandel und Kinder sowie Arbeits-und Migrant*innenrechte, einschließlich der Sexarbeiter*innen, Vorrang vor einer sensationslüsternen Berichterstattung haben.
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Es ist auch meiner Erfahrung nach 32 Jahre in der Sexarbeit. das gerade zu EM oder WM die umsatzrückläufigste Zeit ist. Alle Menschen in der Prostitutionsbranche sind froh wenn dieser Zeit vorbei ist. Warum sollten dann viele Kolleginnen anreisen am Ort des Veranstaltung, wenn die Männer lieber auf den Fußballevent fixiert sind als sich sexuell zu vergnügen. Auch gestern las ich in einem Freierforum, das für die Männer die nicht Fußballinteressiert sind, es jetzt den paradiesische Auswahl im Laufhaus gibt. Alle Türen waren offen. Es herrscht toten Tanz.