Autorin: Janine Ewen (@JanineEwen)
Am 23. Mai 2014 marschierte die Polizei aus dem 76. Polizeirevier in Niterói illegal und ohne richterliche Genehmigung in das Gebäude „Caixa Economica“, wo 300 Sexarbeiter*innen und andere Bewohner leben. Niteroi ist eine Stadt, die gegenüber der Guanabara Bucht von Rio de Janeiro liegt. Unter dem Namen „Reurbanizacao“ (Re-Urbanisierung) ging es bei dieser Polizeioperation um die Entfernung von rund 300 Prostituierten, die zu weiteren Ermittlungen auf Polizeistationen gebracht wurden. Insbesondere vor dem Hintergrund der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2014, die am 12. Juni beginnt, wird angenommen, dass die Operation Teil der Massenhygienisierung (sozialen Säuberung) in der Innenstadt von Niterói ist.
„FIFA Müll -Reiniger sind in der Stadt und unterstützen diese Regierungsbastarde“ (Anwohner)
Sexarbeiterinnen, Menschen, die in den Wohnungen leben und die Bewohner des umliegenden Gebietes wurden vertrieben und deren Geschäfte geschlossen und sind nun ohne Arbeit und Unterkunft. Zu den Gewerben gehörten Geschäfte und Haarsalons, die durch die lokale Sexarbeiter*innen-Gemeinschaft überlebten. Sie wurden gesprengt, geschlossen und versiegelt.
„Wir werden nicht schweigen, wir werden das Gebäude besetzen und uns äußern, bis die Gesellschaft versteht, dass diese Leute hier arbeiten, um zu überleben und dass es nicht illegal ist.“ (Sexworker-Aktivistin)

Massenrazzia in Niteroi. BIlder: Observatório da Prostituição
Eine Prostituierte vor Ort beschrieb eine Frau mit ihrer Tochter, die sechs oder acht Jahre alt ist, die nicht weiß, was sie tun soll und Angst hat, dass die Polizei zurückkommt, um sie dafür zu bestrafen, dass sie Parfüms, Haarschmuck und andere Kleinigkeiten an Sexarbeiter*innen verkauft hat. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die Gemeinschaft der Caixa Economica in vielen Aspekten des Lebens sehr nahe stand: Freunde, Verwandte, Nachbar*innen und Dienstleister*innen.
„Ich habe Frauen mit ihren Kindern gesehen, die nicht mehr wussten, was sie tun sollten; andere schliefen auf der Straße und waren nun allen möglicher Formen von Gewalt ausgesetzt. Ich sah Frauen ohne Zuhause, die ihre Kinder auf den Straßen stillten“. (Zeuge)
„Ich sah das Elend, das der bewaffnete Flügel des Staates verursachte“. (Sexworker-Aktivistin)
Es gab Online-Diskussionen über die Massenrazzia mit Berichten über Vergewaltigungen (Frauen behaupten, dass sie gezwungen wurden, Oralsex an Polizeibeamten durchzuführen), Diebstahl, körperliche und moralische Gewalt, und Behauptungen, dass die Polizei Beweise in den Habseligkeiten der Sexarbeiter*innen platziert habe, um ihre Lage absichtlich zu verschlechtern.

Massenrazzia in Niteroi. BIlder: Observatório da Prostituição
„Sie zerstörten die Wohnungstüren, sodass die Wohnung völlig ungeschützt war“. (Zeugen)
„Ein Polizist, der eine der Frauen angriff, schrie: ‚Ich haue zu! Sie hat mit dem F-Wort geflucht‘ – als ob das ein Grund für den Angriff auf eine Frau sei!“. (Zeugen)
Die Polizei erzwang die Entfernung von Personen, mit wenig Rücksicht auf diejenigen, die Probleme haben könnten, die Wohnung ohne Aufzug zu verlassen.
„Die älteren Menschen sind in den Wohnungen gefangen, weil sie keine Treppen nutzen können und die Polizei den Lift geschlossen hat.“
Transgender-Personen und Transvestiten wurden mit widerlicher Diskriminierung durch die einfallenden Polizisten konfrontiert.
„Wir sehen einen Mangel an Respekt von der Polizei gegenüber Transvestiten – wenn man sich anschaut, wie sich die Polizei mit Worten wie Dyke … oder FAG lustig macht.“

Massenrazzia in Niteroi. BIlder: Observatório da Prostituição
Als Sexarbeiter*innen und Nicht-Sexarbeiter*innen nach der Freilassung zu ihren Zimmern zurückkehrten, war kaum etwas oder gar nichts mehr da. Fenster und Türen waren zertrümmert. Persönliche Gegenstände und Geld wurden gestohlen, so dass nur eine Annahme übrig blieb. Das illegale Eskortieren von Menschen auf die Polizeistationen war eine gehässiger Beweggrund, um alles wegzunehmen und um Sexarbeiter*innen und Verbündete an die Macht des Gesetzes und der Polizei zu erinnern, die den Weg für unzählige Korruptionshandlungen gegen die Sexworker-Community ebnet. Das Projekt ‚Reurbanizacao‘ liefert, zusammen mit vielen anderen Beispielen, starke und wichtige Argumente für eine explizite Veränderung der Politik in Brasilien in Bezug auf die Gesundheit und Sicherheit von Sexarbeiter*.
Ein Appell wurde an engagiert Anwälte und Anwältinnen in Niterói und Rio de Janeiro geschickt, mit der Forderung nach Niteroi zu kommen, um direkt vor Ort diese Verbrechen durch die öffentliche Hand mitanzusehen. Der Leidensweg ist noch nicht vorbei und die Polizei ist schon wieder zurückgekehrt, um das Gebäude wieder zu besetzen.
Eine der Prostituierten, die seit Freitag vor Ort anwesend ist, betonte die seelische Belastung, die ihr diese Situation verursachte:
„Ich wollte mehrmals mit ihnen weinen. Ich bin körperlich und psychisch sehr müde, aber wenn sie mich brauchen, bin ich bereit zu demostrieren, weil wir die Häuser der Frauen zurück wollen…“
Weitere Updates werden folgen.
Weitere Informationen bietet das Observatório da Prostituição (Portugiesisch), auch auf Facebook mit weiteren Bildern und Infos
Dieser Text zur Razzia wurde auf Englisch übersetzt: 100 sex workers illegally arrested, robbed and raped near Rio
—
Janine Ewen forscht zu Public Health und Menschenrechte in Rio de Janeiro. Aktuell forscht sie zum Verhältnis von Sportveranstaltungen und der Überwachung (policing) von Sexarbeiter*innen in Brasilien (Fußball WM) und in Schottland (Commonwealth Games).
Der englische Originaltext ist hier zu finden.
[…] von Sexarbeiterinnen in Niteroi wurden gewaltsam von der Polizei durchsucht und einige wurden zwangsgeräumt. Andere Bewohnerinnen, darunter ältere […]