Dieser Artikel wurde ursprünglich im FIZ Magazin (November 2017) der FIZ – Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (Zürich) veröffentlicht.
Es ist nicht einfach, Betroffene von Frauenhandel zu identifizieren. Denn oft stimmen unsere Bilder im Kopf nicht mit der Realität überein. Das führt dazu, dass viele Opfer unentdeckt bleiben. Wir müssen unseren Blick für alle Betroffenen schärfen. Ein Versuch, Klischees zu demontieren.
Stereotyp: Frauenhandelsopfer werden brutaler physischer Gewalt unterworfen.
Stereotype Bilder erschweren es, reale Opfer zu identifizieren. Denn ihre Kehrseite ist: Wer nicht brutal geschlagen wird, hat es schwer, als Opfer von Menschenhandel wahrgenommen zu werden.
Tatsächlich ist bei Menschenhandel oft massive Gewalt im Spiel. Aber nicht immer. Die Gewalt nimmt oft subtile psychische Formen an. Zum Beispiel drohen Täter, „zuhause“ zu erzählen, was Frauen in der Schweiz machen und sie zu beschämen. Für Betroffene kann das den sozialen Tod bedeuten. Oder Täter entwerten ihre Opfer verbal und schaffen es so, dass diese sich schmutzig und wertlos fühlen. Sie nutzen die Unkenntnis und Orientierungslosigkeit der Betroffenen aus und setzen sie mit von den Betroffenen akzeptierten Werten unter Druck: Geleistete Schwüre, Gehorsamspflichten oder mit Scham behafteten Erfahrungen.
Stereotyp: Betroffene von Menschenhandel werden illegal über die Grenze geschleust.
Gehandelte Menschen, so glauben viele, seien illegal von der Täterschaft in die Schweiz gebracht worden. Es gibt tatsächlich viele illegalisierte Betroffene von Menschenhandel. Ohne Papiere oder ohne geregelten Aufenthaltsstatus werden sie in der Schweiz oft nicht als Opfer wahrgenommen, sondern als MigrantInnen, die Einreise- und Aufenthaltsregelungen umgehen und das «Schweizer Gastrecht» missbrauchen. Folge davon ist ihre Kriminalisierung. Statt als Betroffene von Frauenhandel unterstützt, werden sie als Täterinnen gebüsst und ausgeschafft.
Aber es gibt viele Betroffene, die aufgrund von falschen Versprechungen und in der Hoffnung auf ein besseres Leben alleine und legal in die Schweiz einreisen, mit einem EU-Pass, als TouristInnen oder als Asylsuchende. In der Schweiz werden sie von Menschenhändlern erwartet, die ihnen eine Arbeitsstelle, eine Ausbildung oder eine Ehe versprochen haben.
Stereotyp: Alle Opfer von Frauenhandel werden in der Prostitution ausgebeutet.
In den Köpfen der meisten Menschen ist das typische Opfer von Frauenhandel eine junge Frau, die ohne ihr Einverständnis mit Gewalt oder mittels schwarzer Magie zur Sexarbeit gezwungen wird. Sexarbeit, so das Stereotyp, sei nie frei gewählt – und das führt zur Forderung eines Verbots. Aber: Viele Frauen, die ins Sexgewerbe gehandelt werden, sind bereit, sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Manche von ihnen haben bereits im Herkunftsland im Sexgewerbe gearbeitet. Und es gibt auch Männer und Transfrauen, die diese Tätigkeit ausüben.
Eine grundlegende Bereitschaft, in der Sexarbeit zu arbeiten, bedeutet nicht, dass die Betroffenen keine Opfer von Menschenhandel sein können. Denn auch mit einem grundlegenden Einverständnis, sexuelle Dienstleistungen anzubieten, können sie gezwungen werden, ihre Arbeit unter ausbeuterischen Bedingungen zu tun. Weil sie bereits früher in der Sexarbeit tätig waren oder dazu bereit sind, werden sie oft nicht als Opfer von Menschenhandel wahrgenommen. Sie sind es aber: Wenn z.B. ihr Lohn oder ihre Papiere eingezogen werden, wenn sie Tag und Nacht zur Verfügung stehen müssen, wenn auf sie wird Druck ausgeübt wird.
Zudem gibt es auch Menschenhandel in anderen Branchen: in Privathaushalten, in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe, Baugewerbe. Wo undurchsichtige Subunternehmerketten bestehen, ist die Gefahr am grössten. Frauen und Männer müssen unter ausbeuterischen Bedingungen leben und arbeiten. Auch wenn sie einverstanden sind, die entsprechende Arbeit zu tun – mit der Ausbeutung sind sie es nicht. Ihnen wird zum Beispiel der Lohn vorenthalten, sie haben unzumutbare lange Arbeitszeiten, ihre Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt oder Kontakte zur Aussenwelt werden kontrolliert.
Stereotyp: Opfer sind jung, weiblich, abhängig und hilflos.
Das stereotype Opfer ist handlungsunfähig und hat keinen eigenen Willen. Es wartet darauf gerettet zu werden und ist seinen RetterInnen dankbar.
Mit anderen Worten: Ältere Frauen, Männer, Menschen, die sich gegen Behörden und Betreuende wehren und eigene Überlebensstrategien umsetzen, passen nicht in das Bild eines «idealen» Opfers und werden weniger geschützt. Betroffene von Menschenhandel sind jedoch handelnde Subjekte, die unter schwierigen Bedingungen Überlebensstrategien entwickeln: beispielsweise Verschlossenheit oder Widerstand, die sich in der Ausbeutung bewährt haben, im Leben danach aber weniger hilfreich sind. Wenn Betroffen dem stereotypen Bild nicht entsprechen, werden sie als «schwierig» und «undankbar» abgestempelt.
Aber Opfer von Menschenhandel wurden massiv fremdbestimmt und wenn sie einmal der Ausbeutung entkommen sind, wollen sie nicht noch einmal bevormundet werden. Auch wenn Überlebensstrategien irrational erscheinen, müssen sie also solche wahrgenommen werden. Denn in scheinbar verrückten Strategien verbirgt sich oft ein Erfahrungswissen, das wir als privilegierte Menschen nicht haben. Entscheidend ist dann, dass wir unsere Normalitätsvorstellungen hinterfragen und die Welt aus der Sicht der Betroffenen versuchen zu sehen, sie stärken und nicht durch Stereotypen weiter einschränken.