Autorin: Nandita Sharma, Professorin für Soziologie an der Universität Hawaii (Webseite). Dieser Text wurde ursprünglich in englischer Sprache auf „Beyond Trafficking and Slavery“ veröffentlicht.
Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels verleihen nationalen Anti-Migrationsbestrebungen zwar einen humanitären Glanz, aber nationale Staatsangehörigkeits- und Einwanderungspolitiken bleiben nach wie vor die größte Gefahr für viele Migrant*innen.
Nationale Einwanderungspolitiken und ihre Durchsetzung stellen die größten Gefahren für Menschen dar, die versuchen nationale Grenzen zu überqueren. Außerdem stellen die Kategorien, in die die meisten migrierenden Menschen eingeteilt werden – ‚illegal‘ oder ‚befristete ausländische Arbeitnehmer‘ – die größte Bedrohung für ihre Freiheit dar. Weil sie als „illegal“ oder „befristet“ kategorisiert sind, werden eine immer höhere Anzahl (und ein höherer Anteil) migrierender Menschen in minderwertige Arbeit gedrängt, während ihre Rechte und die Mobilität stark eingeschränkt werden. Kurz gesagt, die nationalen Einwanderungspolitiken schaffen die Voraussetzungen dafür, dass manche Menschen als „billig“ oder „wegwerfbar“ gelten. Ganz einfach gesagt: Ohne nationale Einwanderungsgesetze, gäbe es keine „Migrant*innen“, die unterdrückt, ausgebeutet und zum Sündenbock gemacht werden können.
Leider erfahren wir aus den immer zahlreicher werdenden Berichten über „Menschenhandel“ und „moderne Sklaverei“ nichts über diese realen Gefahren und Ausbeutungen. Ich habe mich schon lange gefragt, warum das so ist. Ich vermute, dass es etwas damit zu tun hat, dass in Kampagnen gegen Menschenhandel Nationalstaaten als die „Retter“ der „Opfer von Menschenhandel“ dargestellt werden, anstatt die Nationalstaaten als Ursache des Leidens zu entlarven. Für all jene Leute, deren Mobilität ernsthaft durch Einwanderungs- und Grenzkontrollen gefährdet ist; für diejenigen, die jemanden bezahlen müssen, der oder die ihnen hilft, über die zunehmend militarisierten Grenzen zu kommen; für diejenigen, die gezwungen sind, für Hungerlöhne unter miserablen Bedingungen zu arbeiten; für diejenigen, die immer häufiger in Haft sind und abgeschoben werden; und für diejenigen, die für die Menschen Sorge tragen, die beim Versuch irgendwo anders hinzukommen, auf hoher See ertrunken oder in Wüsten verdurstet sind, ist die Vorstellung, dass der Nationalstaat ein Freund der „Migrant*innen“ ist, nun ja, irritierend.
Politiken zur Bekämpfung des Menschenhandels erweisen migrierenden Menschen einen Bärendienst, insbesondere den verletzlichsten unter ihnen. Indem sie unsere Aufmerksamkeit weg von den Praktiken der Nationalstaaten und der Arbeitgeber lenken, kanalisieren sie unsere Energien in eine Agenda von „Recht und Ordnung“ (law-and-order“), wonach man gegen „Menschenhändler“ „hart durchgreifen“ soll. Auf diese Weise sind Maßnahmen gegen den Menschenhandel ideologisch: Sie stellen die Vielzahl von Einwanderungs- und Grenzkontrollen als unproblematisch dar und verlagern sie außerhalb der Grenzen des Politischen. Die Gründe, warum es für Menschen immer schwieriger und gefährlicher ist, sich sicher zu bewegen oder sicher an neuen Orten zu leben, werden ignoriert, während die Nationalstaaten eilig „Menschenhändler“ kriminalisieren und „Opfer von Menschenhandel“ (weitgehend) abschieben.
Um eine sinnvolle Diskussion über „Menschenhandel“ und „moderne Sklaverei“ zu führen, müssen wir ernst nehmen, wie nationale und internationale Governance-Regime und Rechtsvorschriften die Erfahrungen der Menschen prägen, die versuchen verschiedene nationale Gesellschaften zu verlassen, sie zu durchqueren oder dort zu leben und zu arbeiten. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gab es im Jahr 2013 232 Millionen internationale Migrant*innen; das sind 57 Millionen mehr als im Jahr 2000. Heutzutage ist ein Großteil (aber nicht die ganze) Migration durch die enormen räumlichen Ungleichheiten in Wohlstand, Frieden und Macht geprägt. Im Gegensatz zum „großen Zeitalter der Massenmigration“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als die Migration vor allem aus Europa kam, stammen heute die meisten grenzüberschreitenden Migrant*innen aus der „armen Welt“. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass Staatsbürgerschaft ein Schlüsselfaktor bei der Prognose globaler Einkommensungleichheit darstellt. Branko Milanovic zeigt in seinem 2005 erschienenen Buch „Worlds Apart: Measuring International and Global Inequality“, dass Bürgerinnen und Bürger der Nationalstaaten der „reichen Welt“ einen Riesen „Staatsbürgerschafts“-Bonus genießen. So steht beispielsweise ein*e Bürger*in der Vereinigten Staaten von Amerika mit einem „Durchschnittseinkommen im unteren Zehntel besser da als 2/3 der Weltbevölkerung „(Milanovic 2005, S.. 50, Hervorhebung hinzugefügt).
Wie haben Nationalstaaten vor allem in der „reichen Welt“ auf diese Zunahme der internationalen Migration und der globalen Ungleichheiten reagiert? Nicht indem Menschen bei der Migration geholfen wird oder indem ihre Migrationsrouten sicherer gemacht werden, sondern durch die Umsetzung restriktiverer und straforientierter Einwanderungs- und Grenzkontrollen als je zuvor. Dies hat jedoch nicht die Migration von Menschen gestoppt und das ist wohl auch nicht das Ziel der Staaten. Während mehr und mehr Menschen migrieren, haben sie Zugang zu immer weniger Rechten und Ansprüchen. In den Vereinigten Staaten beispielsweise stellen Migrant*innen ohne Aufenthaltserlaubnis die größte Gruppe dar – in einem Verhältnis von etwa 15:1. In Kanada stellen „Gastarbeiter“, die aber nicht frei sind, ihren Arbeitgeber, Job oder geografischen Aufenthaltsort zu wählen, die größte Gruppe von „Migrant*innen“ dar.
So haben neoliberale Neuformulierungen von Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik keineswegs Migration abgeschafft oder eingeschränkt. Vielmehr haben sie bewirkt, dass die überwiegende Mehrheit der Migrant*innen keine Ansprüche gegenüber den Staat (in Bezug auf soziale Absicherung) oder den Arbeitgeber*innen (in Bezug auf Mindestlöhne und Arbeitsstandards) geltend machen können. Genau so werden „billige“ und „austauschbare“ Arbeitskräfte geschaffen. Das ist die wahre Geschichte der internationalen Migration im Zeitalter des Neoliberalismus (seit den späten 1960er Jahren): Die Schaffung einer rechtlich untergeordneten Gruppe von Menschen in der Rolle der „Migrant*innen“.
Gerade in diesem Zeitraum sind auch die Narrative der „modernen Sklaverei“ und „Opfer von Menschenhandel“ entstanden. Das ist kein Zufall. Gerade als Nationalstaaten es fast unmöglich gemacht haben, auf ihrem Boden und als Träger*innen von Rechten legal zu leben und zu arbeiten, wurden Maßnahmen gegen Menschenhandel in nationales Recht gegossen. Geschichten von „Menschenhandel“ (oder „Schleusung“), die zu Forderungen nach erhöhten staatlichen Eingriffen an der Grenze und Strafmaßnahmen für Menschenhändler und/oder Schmuggler geführt haben, haben die Funktion weitere Kontrollen der globalen Mobilität von Menschen zu legitimieren – alles im Namen der „Hilfe“ für Opfer von Menschenhandel. Dadurch dass sie durch eine Politik der „Rettung“ ideologisch gefiltert werden, verschaffen Kampagnen zur Bekämpfung des Menschenhandels den ausbeuterischen und repressiven Praktiken der Staaten und Arbeitgeber eine entscheidende Fassade des Humanitarismus. Es ist wegen ihres ideologischen Charakters, dass Kampagnen gegen den Menschenhandel so gut mit offiziellen Anti-Migrationsagenden zusammenpassen.
Maßnahmen gegen Menschenhandel verpassen es insbesondere einzuräumen, dass es angesichts der immer restriktiveren Einwanderungs- und Grenzkontrollen für viele Menschen praktisch unmöglich geworden ist, ohne die Hilfe von Menschen zu migrieren, die bereit und in der Lage sind, ihnen irgendwie zu helfen. Sie könnten gefälschte Papieren (Visa, Reisepässe, etc.) für die Reise brauchen. Sie könnten Hilfe bei der Reise über verborgene Migrationsrouten brauchen. Sie könnten Hilfe bei der Erlangung bezahlter Beschäftigung benötigen. Es stimmt, dass viele, aber sicherlich nicht alle Migrant*innen auf ihren Reisen Zwang und Ausbeutung erleben. Sie können Täuschungen erleben, wenn die Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen, die sie erwartet haben, sich nicht verwirklichen. Bedeutet dies, dass sie „Opfer von Menschenhandel“ sind, wie einige NGOs, fast alle nationalen Regierungen und die Vereinten Nationen uns glauben machen wollen?
Das sind sie nicht. Stattdessen sind die meisten Migrant*innen, vor allem diejenigen, die als „Illegale“ oder „Gastarbeiter“ kategorisiert werden, Opfer des täglichen, banalen Betriebes globaler kapitalistischer Arbeitsmärkte, die von Nationalstaaten geregelt werden. Diese Praktiken machen Migration zu einer Überlebensstrategie. Menschen werden durch Grenzkontrollpraktiken und den Ideologien des Rassismus, Sexismus und Nationalismus zusätzlich viktimisiert. Sie normalisieren ihre alltäglichen Erfahrungen der Unterdrückung und Ausbeutung als etwas Unspektakuläres, das kaum Aufmerksamkeit verdient. Durch die alleinige Verachtung der „Menschenhändler“ entpolitisieren Anti-Menschenhandels-Hardliner staatliche Einwanderungspolitiken, Grenzkontrollen und den kapitalistischen Markt.
Um die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, die migrieren – und um vorhandene globale Ungleichheiten in Macht, Reichtum und Frieden anzuerkennen – müssen wir Nationalstaaten und ihre Einwanderungs- und Grenzkontrollen erneut politisieren. Dies erfordert, dass wir das Rahmenwerk von „Anti-Menschenhandel“ und die damit einhergehende Gesetzgebung über Bord werfen. Nur eine sehr kleine Anzahl von Migrant*innen erhält einen auch nur vorübergehenden Rechtsstatus als direkte Folge davon, dass sie als „Opfer von Menschenhandel“ anerkannt wurden. Für die überwiegende Mehrheit der Migrant*innen hat die Fixierung auf „Menschenhändler“ bewirkt, dass die Reisen der Menschen teurer und gefährlicher werden, weil es immer schwieriger geworden ist, nicht entdeckt und verhaftet zu werden. Anstatt Menschen, die migrieren als „Opfer von Menschenhandel“ zu objektifizieren, müssen wir uns wieder darauf konzentrieren, wie staatliche Einwanderungs- und Grenzkontrollen sie auf gefährliche Migrationsrouten gedrängt haben. Wir müssen auch anerkennen, wie die Schnittstelle von Strafrecht und Einwanderungsgesetzen die Voraussetzung für die Ausbeutung von Menschen schafft, die jenseits der Grenzen ihren Lebensunterhalt verdienen und ein neues Zuhause aufbauen. Dies führt zu der Erkenntnis, dass wir gegen Praktiken der Vertreibung mobilisieren müssen, während gleichzeitig sichergestellt werden muss, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt nach ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen zu migrieren. Nur so können die globalen Praktiken der Ausbeutung und des Missbrauchs bekämpft werden. Wir müssen alle Einwanderungskontrollen abschaffen und das durch den globalen Kapitalismus und das globale System der Nationalstaaten organisierte soziale Beziehungsgeflecht beseitigen.