Dieser Artikel wurde ursprünglich im Rundbrief 55 vom Dezember 2014 der FIZ – Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (Zürich) veröffentlicht. Im Rundbrief geht es um Arbeitsausbeutung und Menschenhandel.
Seit Jahren betreut die FIZ Betroffene von „Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft“ in verschiedenen Arbeitssituationen. Im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht allerdings bisher Frauenhandel zwecks sexueller Ausbeutung, also der Handel von Frauen in die Sexindustrie. Aber Menschenhandel im Zusammenhang mit Ausbeutung der Arbeitskraft kommt auch in vielen anderen Branchen vor. Sowohl auf internationaler Ebene wie auch in der Schweiz gestaltet es sich schwierig, Opfer von Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft zu erkennen, Täter_innen zu verfolgen und Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Die FIZ unterstützte 2013 elf Opfer von Menschenhandel, deren Arbeitskraft systematisch ausgebeutet wurde. Die Betroffenen suchten hier nach einem besseren Auskommen für sich und ihre Familien im Herkunftsland. Sie gingen auf Angebote für eine angeblich gutbezahlte Arbeit ein, fanden in der Schweiz dann aber ganz andere Bedingungen vor als versprochen und wurden unter Druck gesetzt. Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft gibt es in allen Bereichen, wo es keine qualifizierte Arbeitskräfte braucht und ein Bedarf an flexiblen Arbeitnehmer_innen besteht: zum Beispiel in Privathaushalten, auf dem Bau, in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Wo keine staatliche Kontrolle vorhanden ist oder wo Kontrolle durch undurchsichtige Subunternehmerketten erschwert wird, ist das Risiko, dass Arbeitnehmer_innen Opfer von Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung sind, am grössten. Sie werden oft nicht als Opfer von Menschenhandel erkannt. Wieso gestaltet sich das Aufdecken dieser Form von Menschenhandel so schwierig?
Menschenhandel: Rekrutierung, Druckmittel, Zweck
Zum Tatbestand „Menschenhandel“ gehören verschiedene Faktoren: Zum einen die Rekrutierung im Herkunftsland durch einen oder mehrere Vermittler_innen. Das können auch Verwandte, Freund_innen oder Bekannte sein. Sie sprechen Menschen an, die in schwierigen Situationen leben und bieten einen Arbeitsplatz im Ausland an, organisieren Reise und Unterkunft und täuschen sie über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Nach der Rekrutierung kommen Druckmittel ins Spiel. Sobald die Betroffenen merken, dass sie getäuscht wurden, machen Menschenhändler_innen ihre Opfer mit Druckmittel gefügig: mit Drohungen gegen sie und ihre Familien, mit offener oder versteckter Gewalt, indem sie ihnen ihre Reisedokumente wegnehmen oder ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Der dritte Faktor, der zum Tatbestand „Menschenhandel“ gehört, ist der Zweck, zu dem Opfer gehandelt werden: die Ausbeutung der Arbeitskraft oder die sexuelle Ausbeutung. In der Realität überlappen sich Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft und Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung oft. Wenn Frauen zur Sexarbeit unter ausbeuterischen Verhältnissen genötigt werden, wird sowohl ihre Arbeitskraft ausgebeutet wie auch ihre sexuelle Integrität verletzt. Auch Arbeiterinnen in der Gastronomie, Landwirtschaft, in der Hausarbeit oder in anderen Branchen können sowohl sexuell wie auch arbeitsmässig ausgebeutet werden.
Nur Ausbeutungssituation ist sichtbar
Die erste Phase des Handels, die Rekrutierung , geschieht in der Regel nicht in der Schweiz und ist darum hier nicht sichtbar. Die Mittel, mit denen Opfer von Menschenhandel unter Druck gesetzt werden, finden im Versteckten statt und viele Betroffene reden nicht darüber, wenn sie befragt werden.
Um Opfer von Menschenhandel in der Schweiz zu identifizieren, muss daher in erster Linie die Ausbeutungssituation (der Zweck des Menschenhandels) erkannt werden. Erst dann können Rekrutierung und Druckmittel offen gelegt und erst dann können mutmassliche Opfer betreut werden.
Arbeitsbedingungen an Schweizer Standards messen
Voraussetzung für die Erkennung von Ausbeutung der Arbeitskraft ist, dass die schweizerischen Standards (und nicht die Arbeitsstandards im Herkunftsland der Betroffenen) als Vergleichsgrösse herangezogen werden. Wo das schweizerische Arbeitsrecht massiv verletzt wird, sollten Behörden die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Arbeitnehmer_innen Opfer von Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung sind. Wo ein solcher Verdacht besteht, muss in mehreren Gesprächen sorgfältig eruiert werden, wie die Person in die Schweiz gekommen ist und mit welchen Mitteln sie in ihre Lage gebracht wurde oder darin festgehalten wird.
Hinweise auf Menschenhandel können in den Arbeitsbedingungen von Migrant_innen, in ihren Lebens- und Wohnbedingungen und in ihrer Vulnerabilität liegen. Arbeitsbedingungen sind dabei die wichtigsten Faktoren, die hellhörig machen sollten. Sie müssen an schweizerischen Standards gemessen werden. Auch die Lebens- und Wohnbedingungen können ein Hinweis auf Menschenhandel sein. In vielen Fällen sind die Arbeitgeber_innen diejenigen, die den Betroffenen Unterkunft und Verpflegung geben.
Arbeitsbedingungen, die hellhörig machen müssen:
- Geringer Lohn
- Ungerechtfertigte Lohnkürzungen
- Vorenthalten des Arbeitslohns
- Unzumutbar lange Arbeitszeiten
- Gefährdende Arbeitsbedingungen, keine Schutzmassnahmen
- Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Zurückhalten am Arbeitsplatz oder in einem eingegrenzten Bereich
Lebens- und Wohnbedingungen, die auf Menschenhandel hinweisen können
- Reduzierte Nahrung
- Reduzierter, kontrollierter Zugang zu medizinischer Versorgung
- Keine private Rückzugsmöglichkeit
- Kontrollierte Unterkünfte
- Schlafen am Arbeitsort (z.B. in der Küche, auf der Baustelle)
- Mangelnde hygienische Infrastruktur
- Überfüllte Gemeinschaftsunterkünfte
Vulnerabilität der Arbeitnehmenden
Besonders bei verletzlichen (vulnerablen) Menschen muss genau hingeschaut werden, wenn sie schlechte Arbeits-, Lebens- oder Wohnbedingungen haben. Verschiedene Faktoren machen Menschen vulnerabel, z.B.:
- Ein prekärer Aufenthaltsstatus oder iIllegalisierter Aufenthalt,
- Isolation bzw. kein soziales Netz,
- Zugehörigkeit zur einer diskriminierten ethnischen Minderheit,
- diskriminierende Erfahrungen und daraus folgendes Misstrauen gegenüber Behörden,
- hohe Verschuldung bei Arbeitgeber,
- Hilflosigkeit aufgrund von Minderjährigkeit oder körperlicher oder geistiger Behinderung,
- keine oder mangelnde Sprachkenntnisse,
- Orientierungslosigkeit z.B. in Bezug auf den Aufenthaltsort,
- Unkenntnis der Rechte als Arbeitnehmer_in im Zielland,
- schlechter Ausbildungsstand, Analphabetismus, Deprivation in Kindheit und Jugend.
Was tut die Schweiz gegen Menschenhandel in die Arbeitsausbeutung?
Seit 2006 ist in der Schweiz Paragraph 182 des Strafgesetzbuches in Kraft: Er stellt Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung, zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft oder zwecks Entnahme eines Körperorgans unter Strafe. Zuvor war lediglich Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung strafbar. Allerdings: Die Schweiz steht noch am Anfang mit dem Aufdecken von Arbeitssituationen, die im Zusammenhang mit Menschenhandel stehen. Eine Vernetzung von Fachleuten – Arbeits-Behörden, Gewerkschaften, Opferhilfen, NGOs – sowie der Strafverfolgung ist noch zu entwickeln. Dabei könnte sich auch ein Blick auf internationale Best Practise-Modelle lohnen. Um Betroffene zu erkennen, zu schützen und Täter_innen zur Rechenschaft zu ziehen, müssen Bund und Kantone ihre Anstrengungen intensivieren.
Shelley Berlowitz und Dani Oertle