Aber was ist mit Menschenhandel?

Autorin: Megan Rivers-Moore, Soziologin und Assistant Professor in Frauen- und Geschlechterstudien an der Carleton University, Kanada. Ursprünglich veröffentlicht auf Border Criminologies

„Wir möchten Sie einladen, um einen Vortrag über Menschenhandel zu halten. Das Thema stoßt bei unseren Studierenden auf großes Interesse und bereitet ihnen Sorge.“

„Ich habe vor, eine Hausarbeit über sexuelle Sklaverei von Frauen zu schreiben. Jedes Jahr werden Millionen von Frauen in die Sex-Industrie verkauft und das ist ein sehr wichtiges Problem, das Feministinnen ansprechen müssen.“

„Aber was ist mit Menschenhandel? Mit den Frauen, die gegen ihren Willen dazu gezwungen werden, Sex zu verkaufen? Ich möchte über diesen Aspekt Ihrer Arbeit hören.“ 

Obwohl es in meiner Forschung nicht um Menschenhandel geht, erhalte ich regelmäßig diese Art von Einladungen, studentische Arbeiten und Fragen. Als Sexarbeits-Forscherin werde ich häufig mit der sehr frustrierenden Annahme konfrontiert, dass Sexarbeit und Menschenhandel ein und dasselbe sind. Obwohl ich dieses Problem in der Vergangenheit gelegentlich angesprochen habe, denke ich weiterhin darüber nach, was die Beschäftigung mit diesem Thema erklären könnte. Was zeigt das Interesse an Menschenhandel über die komplizierte Beziehung zwischen Feminismus, Rassismus, Einwanderung und Grenzkontrolle auf?

Arbeitsmigration ist nicht neu: Es hat immer schon nationale, regionale und internationale Migrationsnetzwerke gegeben. Also gab es auch immer schon diejenigen, die die Verzweiflung der Migrant/-innen zu ihrem Vorteil ausnutzten. Angesichts dieser Tatsache müssen wir uns fragen, warum es gerade so viel Interesse am Frauenhandel gibt. Warum wollen alle über Menschenhandel sprechen?

Quelle: The Naked Anthropologist

Einer der Gründe, warum meine Studierenden aus der Frauen-und Geschlechterforschung ihre Forschungsarbeiten über Menschenhandel schreiben ist, dass feministische Organisationen auf sehr wirksame Art und Weise in nationalen und internationalen politischen Kreisen Lobbyarbeit gemacht haben, um Menschenhandel auf die politische Agenda zu bekommen. Viele dieser Organisationen argumentieren, dass keine Frau je dem Verkauf sexueller Dienstleistungen zustimmen könne. Und wenn „Zustimmung“ (consent) grundsätzlich unmöglich ist, dann sind alle Migrantinnen in der Sexarbeit Sex-Sklavinnen, Opfer von Menschenhandel und deshalb schutz- und hilfebedürftig.

Wir müssen über Entscheidungsfreiheit (choice) und Zustimmung (consent) nachdenken und vor allem über ihre Rolle in der feministischen Politik. Während Feminist*innen schon lange die Bedeutung der Fähigkeit und des Rechts von Frauen betont haben, die Entscheidungsfreiheit sowie auch das Recht zu haben, dem zuzustimmen, was mit unserem Körper passiert, so handelt es sich doch um Fragen, die schwieriger sind als uns lieb ist zuzugeben. Zum Beispiel kann „Entscheidungsfreiheit“ im Rahmen der Debatten über reproduktive Rechte und Abtreibung als eine unkomplizierte feministische Frage erscheinen, d. h. so lange bis wir über sex-selektive Abtreibung nachdenken. In den feministischen „Sex-Kriegen“ um verschiedene Arten von Sexarbeit, einschließlich der Pornografie, war die Frage der „Entscheidungsfreiheit“ schon immer angespannt. Im Kontext des Menschenhandels bleiben Fragen der „Entscheidungsfreiheit“ und Zustimmung in vielen Gesprächen an vorderster Stelle. Die Vorstellung, dass keine Frau wirklich entscheiden kann, Sex zu verkaufen, oder der Migration zustimmt, um in der Sexindustrie zu arbeiten, wird häufig von vielen feministischen Akademiker*innen und Aktivist*innen vorgebracht. Diese Vermischung von Sexarbeit und sexueller Sklaverei, migrantische Sexarbeit und Menschenhandel ist zutiefst beunruhigend. Sie erweckt den Eindruck, dass bestimmte Gruppen von Frauen – und es sind meistens women of color aus dem globalen Süden – grundsätzlich unfähig sind, sich frei zu entscheiden und zuzustimmen. Es lohnt sich auch darüber nachzudenken, was es für Feminist*innen bedeutet, diejenigen zu sein, die für andere Frauen definieren, was Zustimmung bedeutet.

Während feministische Organisationen Migrantinnen in der Sexarbeit oft als Opfer wahrgenommen haben, die Hilfe benötigen, zeigen sich Politiker*innen, Polizei und Einwanderungsbehörden eher selektiv, wenn sie definieren, wer als Opfer zählt und wie sie behandelt werden sollen. Motiviert durch Bedenken über irreguläre Einwanderung, konzentrieren sich staatliche Maßnahmen gegen Menschenhandel häufig auf Kriminalität, Bestrafung und Einwanderungskontrolle. Jene Opfer, die nicht bereit sind bei der Polizei gegen andere auszusagen, riskieren als „illegale“ Einwanderer und Kriminelle behandelt zu werden und ihnen droht eine schnelle Abschiebung. Um es klar zu sagen: Eine der Folgen der Definition aller Migrantinnen in der Sexarbeit als Opfer von Menschenhandel ist ihre Abschiebung und generell die strengere Kontrolle der Mobilität von Frauen.

Wir müssen darauf achten, wie Opfer genutzt werden. Durch wen? Und zu welchem ​​Zweck? Menschenhandel ist kein diskursiv neutraler Boden: Wenn wir über Menschenhandel sprechen, sprechen wir über Zugehörigkeit, Raum, Mobilität, Geschlecht und Migrationskontrolle.

Im Kontext von Costa Rica, der Schwerpunkt meiner eigenen Forschung, habe ich in den letzten fünf Jahren das Aufkommen von Einwanderungsrazzien in Betrieben des Sex-Tourismus in San José (der Hauptstadt) beobachtet. Angeblich unter dem Vorwand, Opfer von Menschenhandel zu finden und ihnen zu helfen, werden Sexarbeiterinnen durchsucht und viele werden in Haft genommen. Migrant*innen, die sich mit einem Studenten-, Hausangestellten- oder Touristenvisum in Costa Rica aufhalten, werden mit dem Argument abgeschoben, dass sie ja nicht arbeiten sollten. Obwohl der Verkauf von Sex in Costa Rica nicht kriminalisiert ist, ist er weder reguliert noch als eine Form der Arbeit akzeptiert, sodass es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, Migrant*innen für das Verrichten einer Arbeit abzuschieben, die der Staat nicht anerkennt.

Die Migrantinnen in der Sexarbeit, die ich in Costa Rica befragt habe, kamen aus einer Vielzahl von Orten und erzählten viele Geschichten, wie und warum sie in der costaricanischen Sex-Industrie landeten. Jede einzelne konzentrierte sich darauf, ihrer Familie Geld zu schicken und Haft oder „Hilfe“ durch die Einwanderungsbehörden zu vermeiden. Als ich eine hochrangige Vertreterin der Internationalen Organisation für Migration in Costa Rica befragte, erzählte sie mir, dass es wichtig sei, „sie früh zu schnappen“, wenn sie sich noch als Opfer sehen. Wenn Migrantinnen zu lange unentdeckt in der Sex-Industrie arbeiten, so ihre Sorge, würden sie sich dafür entscheiden im Land zu bleiben.

Der Fokus auf die Rettung von Opfern geht davon aus, dass Menschenhandel eine relativ einfache Angelegenheit der Identifizierung armer Frauen und böser Männer sei, also von Menschen mit abweichendem Verhalten, anstatt sich auf Institutionen und strukturelle Faktoren wie die globale Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums, der Gesundheitsversorgung und der sozialen Sicherheit zu konzentrieren, die Menschen überhaupt erst für schlechte Arbeitsbedingungen und ausbeuterischen Einwanderungsprozessen anfällig machen. Lösungen gegen Menschenhandel sind auf Strafjustiz ausgerichtet und die Polizei und der Staat werden als Verbündete von Frauen dargestellt. Die Rolle, die feministische Organisationen in diesem Prozess gespielt haben, hat Elizabeth Bernstein „Gefängnis-Feminismus“ (carceral feminism) genannt.

Ein solcher Ansatz hat eine Reihe von Kosten, welche die wichtigen und komplexen Beziehungen zwischen Migration und Menschenhandel verdunkeln. Er schafft auch eine Dichotomie zwischen Opfern, die Hilfe „verdienen“ und jenen, die diese Hilfe nicht verdienen: Das bedeutet, dass die vielen, vielen Migrant*innen, die unter erbärmlichen Bedingungen in der Sex-Industrie arbeiten, nicht als Opfer definiert werden können. Es gibt eine strikte Trennung zwischen Opfern des Menschenhandels, denen geholfen werden soll (obwohl wir in Frage stellen sollten, wie hilfreich Abschiebung wirklich ist), und Migrant*innen ohne Papiere, die den Mund halten sollen.

Das bedeutet nicht, dass Menschenhandel nicht passiert. Menschenhandel gibt es und es ist eine ungeheuerliche Verletzung von Menschen- und Arbeitsrechten. Aber ein großer Teil des Menschenhandels findet außerhalb der Sex-Industrie statt in weniger prickelnden Segmenten des Arbeitsmarktes. Ziemlich oft sind Männer in Jeans, die sich in den Feldern bücken, um Erdbeeren zu pflücken, oder Männer mit Schutzhelmen, die Balken an Gebäuden festnageln, Opfer von Menschenhandel. Landarbeiter und Bauarbeiter passen aber nicht in eine Erzählung, in der sie durch gesetzte weiße Menschen gerettet werden müssen. Sie sind auch nicht für interessante Plakate geeignet: weniger aufregend und auf jeden Fall weniger sexy.

Wie anderen Sexarbeits-Forscher*innen ist mir im Laufe der Jahre klar geworden, dass meine Forschung eigentlich weniger mit Sexualität und mehr mit der Soziologie der Arbeit zu tun hat. Arbeitsmigration findet in einer Vielzahl von unfreien Kontexten statt, aber wir müssen erkennen, dass es Grade der Unfreiheit gibt. Man könnte auch argumentieren, dass die Arbeit im Kapitalismus nie frei ist. Migration, die durch Nationalstaaten kontrolliert wird, ist sicherlich nicht frei. Die Unfreiheiten im kanadischen Live-In Betreuungspersonen-Programm und verschiedene Saisonarbeiter-Programme fangen an wie Menschenhandel zu klingen, oder zumindest wie zutiefst ausbeuterische Schuldknechtschaft. Dennoch setzen sich Unterstützer*innen der Rechte für Pflege- und Haushaltskräfte zum Beispiel nicht für die Abschaffung der Arbeit selbst ein oder für die Rettung der Pflegekräfte durch Abschiebung. Stattdessen fordern sie Veränderungen in den Bedingungen ihrer Beschäftigung und allgemeine Verbesserungen in ihren Arbeits-und Lebensbedingungen. Der Punkt ist, dass sie sich auf die Rechte der Arbeitnehmer*innen und Migrant*innen in einer praktischen und pragmatischen Art und Weise konzentrieren.

Die von Nationalstaaten durchgesetzten Regulierungen von Frauen*arbeitsmigration lösen gerade in Bezug auf Menschenhandel immer mehr Bedenken aus. Sie zeigen auch grundsätzlich, wie wir über Sexarbeit nachdenken: Wenn wir glauben, dass es unmöglich ist, dem Verkauf von Sex zuzustimmen, dann können wir uns vorstellen, dass alle Migrantinnen in der Sexarbeit Sexsklavinnen sind, die (meist weiße) Feministinnen retten müssen. Aber wenn wir Sexarbeit als realistische Arbeit sehen, dann können wir noch komplexere und letztlich produktivere Fragen stellen über die Regulierung und den Schutz der Sexarbeiter*innen, die Bedingungen für ihre Migration und ihre Arbeitskraft sowie die komplexe Mischung aus Unterwerfung und Mobilität, Entscheidungsfreiheit und Einschränkungen, die damit zu tun haben.