Autorinnen: Bridget Anderson (Oxford) und Rutvica Andrijasevic (Leicester)
Wie der Fokus auf das Übel des Menschenhandels die Debatte über Migration entpolitisiert
Menschenhandel ist in den Nachrichten. National und international ist er auf der politischen Agenda. Tausende von Menschen, Hunderte von Gruppen, Dutzende von Zeitungen sind entschlossen, ihn auszumerzen. Dieser Fokus auf Menschenhandel reflektiert und verstärkt ständig die tiefe Besorgnis der Öffentlichkeit über Prostitution und Sexarbeit, über Einwanderung, sowie über den Missbrauch und die Ausbeutung, die er so häufig beinhaltet. Wenn man den Begriff Menschenhandel oder bestimmte Maßnahmen dagegen hinterfragt, könnte man auch gleich sagen, dass man Sklaverei billigt, gegen Mutterschaft ist und Apfelkuchen nicht mag. Menschenhandel ist ein Thema, das uns alle zusammenbringen sollte. Aber wir glauben, dass es notwendig ist, ja nicht in Verdacht zu geraten, Mutterschaft und Apfelkuchen zu kritisieren und Sklaverei zu befürworten. Denn die moralische Panik in Bezug auf Menschenhandel lenkt die Aufmerksamkeit von den strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Wanderarbeiter*innen ab. Das Interesse wird auf die bösen Übeltäter gelenkt statt auf eher systemische Faktoren. Insbesondere wird der staatliche Umgang mit Migration und Beschäftigung ignoriert, der de facto Gruppen von Nicht-Bürger*innen konstruiert, die ungestraft als ungleich behandelt werden können.
Was ist Menschenhandel? Definitionen und die UN-Konvention
Im November 2000 wurde die UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Ziel dieses Abkommens ist die Förderung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität und die Beseitigung der „sicheren Häfen“ für die Täter. Es wird durch drei Zusatzprotokolle ergänzt, die sich mit der Schleusung von Migranten, Menschenhandel – vor allem Frauen und Kinder -, und dem Handel mit Feuerwaffen befassen. Die Definition des Menschenhandels im Protokoll enthält drei Elemente: Dazu gehören eine Handlung, darunter „die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen“, die anhand bestimmter Mittel, etwa „durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat“, und „zum Zweck der Ausbeutung“ durchgeführt wird, wobei Ausbeutung „mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen“ umfasst.
Es ist wichtig zu bedenken, dass das Palermo-Protokoll bekanntlich, kein Menschenrechtsinstrument ist. Es ist ein Instrument, das vielmehr die zwischenstaatliche Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität erleichtern soll, als Opfer von Straftaten zu schützen oder sie zu entschädigen. Staaten sollten die Grenzkontrollen verstärken, um Menschenhandel und Schmuggel zu verhindern. Grenzkontrollen und polizeiliche Zusammenarbeit, nicht der Schutz der Menschenrechte, liegen sowohl dem Protokoll gegen Schleusung als auch dem Protokoll gegen Menschenhandel zu Grunde. Der Schwerpunkt liegt auf dem Abfangen von Menschenhändler*innenn und Schleusern sowie auf ihrer Bestrafung und Verfolgung. Während Staaten ermutigt werden, Betroffenen von Menschenhandel Schutz zu bieten und zu erwägen, Opfern von Menschenhandel die Möglichkeit eines vorübergehenden oder dauerhaften Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet zu geben, bleiben die tatsächlichen Verpflichtungen minimal und die Bestimmungen zum Schutz schwach. Obwohl es andere progressivere Rechtsinstrumente gegen Menschenhandel gibt, ist auch dort der Schutz der Opfer von Menschenhandel von ihrer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden abhängig.[1]
Der Fokus des Palermo-Protokolls auf Kriminalität und Grenzen entstand zum Teil aus einer ganz besonderen Sorge in Bezug auf die Prostitution von Frauen und Minderjährigen, und im Protokoll ist eine explizite Bezugnahme zur sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Prostitution anderer zu finden. Medien, Politik und Forschung über Menschenhandel haben sich fast ausschließlich auf Sexarbeit konzentriert und Menschenhandel wird häufig mit „sexueller Sklaverei“ und organisierter Kriminalität verknüpft. Journalist*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen stellen Migrant*innen in der Sexindustrie sehr schnell als Opfer von Missbrauch und Gewalt dar, während Menschenhändler*innen als in mafiöse Machenschaften verwickelte Personen und/oder Organisationen, die Frauen in der Prostitution versklaven, repräsentiert werden. Dadurch wird ein vereinfachtes und stereotypes Bild von Menschenhandel zementiert, das auf dem binären Gegensatz zwischen betrogenen/unschuldigen Opfern (ausländische Frauen) und den bösen Menschenhändler*innen (meist ausländische Männer) beruht. Menschenhandel erscheint hier als Handlung, die außerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen stattfindet: Es sind kriminelle Individuen, die dafür verantwortlich sind.
Vor allem in Europa geben Regierungen den Menschenhändler*innen auch die Schuld für den Anstieg der irregulären Migration und für den Missbrauch von Wanderarbeiter*innen. So sagte zum Beispiel der damalige britische Innenminister John Reid in seinem Vorwort zum Dokument des Innenministeriums „Durchsetzung der Vorschriften/ Enforcing the rules“ (2007):
Das Versagen, gegen die Menschenhändler*innen vorzugehen, die hinter drei Viertel der illegalen Migration stehen, liefert verletzliche und oft verzweifelte Menschen den organisierten Kriminellen aus.
Das Bild des Opfers von Menschenhandel wird genutzt, um eine emotionale Reaktion und ein Bild von einer großen Anzahl hervorzurufen, das Ängste vor ‚Fluten‘ und ‚Horden‘ von („illegalen“) Migrant*innen aufleben lässt. ( Vor kurzem hat sich der Diskurs verschoben, so dass die dominante Emotion eher Mitleid als Angst ist, aber die Effekte sind sehr ähnlich). Die Darstellung des Menschenhandels als Haupttreiber der illegalen Migration ist eine relativ neue Entwicklung.
Man vergleiche beispielsweise John Reids Aussagen mit jenen des Home Office von 2002, als die Zahlen der Opfer von Menschenhandel „klein“ waren und die Mehrheit der illegalen Einwanderer sich „mit ihrer Zustimmung“ im Vereinigten Königreich aufhielten.[2] Empirische Befunde bestätigen die Zahlen, mit denen hantiert wird, kaum. Zum Beispiel schätzt das US-Außenministerium, dass jährlich 600.000 bis 800.000 Personen über internationale Grenzen hinweg gehandelt werden, aber das US Government Accountability Office (GAO) hat schwere Kritik an diesen und anderen Schätzungen geübt und beschrieb sie als „fragwürdig“ und auf schwachen Methoden basierend.[3] Das GAO weist darauf hin, dass seit 1999 weniger als 8000 Migrant*innen in 26 Ländern Unterstützung durch die Internationale Organisation für Migration (eine der wichtigsten zwischenstaatlichen Organisationen, die sich mit dem Thema befasst) bekommen haben. Es gibt einen erheblichen Spagat zwischen den geschätzten Zahlen und identifizierten Opfern, und die Schätzungen bedienen Ängste, von „Illegalen“ überwältigt zu werden. So gibt es in Großbritannien etwa 35 Plätze für Frauen, die als Opfer von Menschenhandel identifiziert werden, und im Jahr 2007 gab es nur 17 Verurteilungen wegen mit Menschenhandel verknüpften Straftaten, alle wegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung.[4]
Diese Gleichsetzung von „illegaler“ Migration und Menschenhandel wird durch das Palermo-Protokoll nicht gestützt. Denn die UN-Protokolle besagen, dass im Fall von Menschenhandel die Einreise in ein Land sowohl legal als auch illegal erfolgen kann (während „Schmuggel“ sich nur auf die illegale Einreise beziehen kann). Die Protokolle betonen auch, dass Menschenhandel auch innerhalb von nationalen Grenzen stattfinden kann. Jemand muss nicht erst „illegal“ sein, um Opfer von Menschenhandel werden, genauso wenig wie jemand eine „Prostituierte“ sein muss. Daher gibt es in der Praxis entscheidende definitorische Probleme dabei, was eigentlich Menschenhandel ausmacht, die nicht behoben wurden. Dieser Mangel an Klarheit stand dem Erfolg Palermo-Protokolls nicht im Wege, vielleicht hat er diesen vielmehr erleichtert. Während die 1990 von den Vereinten Nationen verabschiedete UN-Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer*innen und ihrer Familienangehörigen bis Juli 2008 nur 15 Unterzeichner hatte, konnte das Palermo-Protokoll zu diesem Zeitpunkt schon 117 Unterzeichner zählen.
Menschenhandel als „Anti-Politik“
Diese definitorische Unschärfe ermöglicht eine konstante Verschiebung zwischen „illegaler Einwanderung“, „Zwangsprostitution“ und „Menschenhandel“. Alle sind sich darüber einig, dass Menschenhandel und (sexuelle) Ausbeutung Unrecht sind, trotz des Problems der eigentlichen Bedeutung dieser Worte. Das hilft dabei, einen humanen Konsens außerhalb der politischen Debatte zu schaffen – niemand kann bezweifeln, dass „Menschenhandel“ abgeschafft werden muss. Die Unschärfe dient jedoch der Entpolitisierung von Interventionen gegen Menschenhandel und sie lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Rolle des Staates bei der Schaffung der Bedingungen, unter denen Ausbeutung auftritt. Unser Argument ist, dass diese Entpolitisierung eigentlich eine Form von „Anti-Politik“ ist:[5] Sie schmuggelt Politik unter dem Deckmantel einer „humanitären Agenda“ ein, die scheinbar auf die Unterstützung und den Schutz der Opfer ausgerichtet ist. Das „Opfer des Menschenhandels“ ist jedoch keine apolitische Figur, wie wir gesehen haben: es ist eine, die der Staat aufgegriffen hat. Die Frage ist dann: Welche Politik wird hineingeschmuggelt? Bei der Betrachtung dieser Frage werden wir drei wichtige Bereiche berücksichtigen – die Sexualpolitik, die Politik der Arbeit, und die Politik der Bürgerschaft (citizenship). (Die Tatsache, dass diese als separate Gelände des politischen Engagements gedacht werden können, ist vielleicht der bemerkenswerteste Punkt).
Sexualpolitik
Die Verhandlungen über das Palermo-Protokoll brachten Staaten mit Feministinnen zusammen, die sich vor allem mit Prostitution befassten, und bis vor kurzem konzentrierte sich die politische Diskussion und Forschung über Menschenhandel eher auf die Einstellungen zu Sexarbeit als Migration. Die Diskussionen rund um das Protokoll selbst wurden von der polarisierten Debatte zwischen jenen, die als „feministische Abolitionist*innen“ bezeichnet werden können, und jenen, die aus der Perspektive der Rechte von Sexarbeiterinnen argumentierten, geprägt. Abolitionist*innen argumentieren, dass Prostitution Frauen auf gekaufte Objekte reduziert und immer und unbedingt entwürdigend und schädlich für Frauen ist. Daher erkennen sie keinen Unterschied zwischen „erzwungener“ und „freiwilliger“ Prostitution an und vertreten die Ansicht, dass Staaten durch ein Tolerieren, eine Regulierung oder Legalisierung von Prostitution die wiederholte Verletzung der Menschenrechte auf Würde und sexuelle Selbstbestimmung ermöglichen würden. Prostitution sei ein „gender crime“, Teil der patriarchalen Herrschaft über die weibliche Sexualität, und ihre Existenz würde durch die Konsolidierung der Zugriffrechte von Männern auf die Körper von Frauen alle Frauen negativ betreffen. Alle Prostitution sei eine Form der sexuellen Sklaverei und Menschenhandel sei untrennbar mit Prostitution verbunden. Aus dieser Perspektive stellen alle Maßnahmen zur Ausrottung der Sexindustrie gleichzeitig Maßnahmen gegen Menschenhandel dar und umgekehrt.
Feminist*innen, die eine Perspektive der Rechte von Sexarbeiter*innen einnehmen, lehnen die Vorstellung, dass Prostitution immer erzwungen wird und intrinsisch entwürdigend ist, ab. Sie betrachten Sexarbeit als Job im Dienstleistungssektor und bewerten staatliches Handeln, das diejenigen kriminalisiert oder auf andere Art und Weise bestraft, die eine individuelle Entscheidung treffen, in der Prostitution zu arbeiten, als Verweigerung der Menschenrechte auf Selbstbestimmung. Sie üben auch starke Kritik an der simplen Gleichsetzung der Nachfrage nach Menschenhandel und der Nachfrage nach Prostitution, die feministische Abolitionist*innen vornehmen. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es eher der Mangel an Schutz für die Beschäftigten in der Sexindustrie, ob Migrant*innen oder nicht, als die Existenz eines Marktes für kommerziellen Sex an sich, der Raum für extreme Ausbeutung, einschließlich Menschenhandel, lässt. Die Lösung des Problems liegt also darin, die Sexindustrie aus dem Untergrund zu holen und sie so zu regulieren, wie auch andere Branchen reguliert werden.
Die meisten EU-Staaten verfolgen einen prohibitionistischen Ansatz, indem sie Prostitution verbieten und Sexarbeiter*innen bestrafen. Allerdings hat die schwedische Regierung ein „neo- abolitionistisches“-Modell, das auch die britische Regierung in Erwägung gezogen hat. Dieses kriminalisiert die Käufer von sexuellen Dienstleistungen und verbietet den Kauf sowie den versuchten Kauf von sexuellen Dienstleistungen. Innerhalb dieser Logik werden Prostitution und Menschenhandel als eine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage gesehen: das Angebot wird durch die Nachfrage von Männern nach sexuellen Dienstleistungen durch Frauen erzeugt. Die Lösung wird dann in der Begrenzung der Nachfrage identifiziert.
Der Vorschlag Prostitution zu kriminalisieren, um Menschenhandel und die Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen in der Sex-Branche zu bekämpfen, basiert oft auf einer vereinfachten Sicht der Sexindustrie und der Art und Weise, wie der Sektor funktioniert. Der Fokus von Maßnahmen und Politiken gegen Menschenhandel auf die Kunden, als Erzeuger der Nachfrage, und/oder auf die „Menschenhändler*innen“ als Ausbeuter migrantischer Arbeit, lenkt die Aufmerksamkeit weg von dem viel größeren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontext, in dem sich die Sexindustrie befindet. Insbesondere mit Blick auf unsere Argumentation hier lenkt dieser Fokus von der Rolle ab, die aufenthalts- und arbeitsrechtliche Bestimmungen in den Zielländern spielen. Ebenso reduziert dieser Ansatz die Migration von Frauen und ihre Teilnahme an der Sexindustrie auf die Idee der (Sex-)Sklaverei und vereinfacht die sozialen Beziehungen, indem er diese ausschließlich als patriarchale Unterdrückung oder kriminelle Aktivitäten sieht, so dass keine Handlungsräume für Sexarbeiter*innen bleiben. Darüber hinaus verstärkt er die Idee, dass Menschenhandel mit „illegaler“ und erzwungener Migration gleichgesetzt werden kann und fördert eine imaginäre trennscharfe Unterscheidung zwischen „legalen“ und „illegalen“ Formen der Migration.
Schließlich trägt ein Fokus auf Sexarbeit als Hauptmerkmal des Menschenhandels wenig dazu bei, die moralische Panik zu reduzieren, die Angst vor „illegaler“ Migration schürt. Im Gegenteil, er verstärkt die Idee der Notwendigkeit strengerer Beschränkungen. Die Befürworter der Kriminalisierung von Kunden ziehen nicht in Betracht, dass es gerade die Verschärfung der Einwanderungskontrollen und restriktive Arbeitsgesetze sind, die die Bedingungen für die Vermehrung von Illegalität und Ausbeutung der Arbeitskraft schaffen.
Politik der Arbeit
Das staatliche Interesse für Menschenhandel scheint etwas Raum für diejenigen zu schaffen, die sich mit Menschen- und Arbeitsrechten von Migrant*innen befassen; es gibt zunehmend Druck, den Fokus der Debatte von sexueller Ausbeutung auf Zwangsarbeit zu erweitern. Akademiker*innen, Migrantenorganisationen und einige Gewerkschaften, sowie die Internationale Arbeitsorganisation haben sich bemüht, die gemeinsame Basis zu nützen, die sie offenbar mit Regierungen und ihrem Wunsch haben, Menschenhandel und Zwangsarbeit auszumerzen.
Nimmt man jedoch die Rechte der Arbeitnehmer*innen in den Blick zeigt das Denken von Regierungen eine Reihe von Widersprüchen. Ein zentrales Problem ist die Frage, was tatsächlich mit „Zwang“ und „Ausbeutung“ gemeint ist. Wie soll z.B. Menschenhandel von gesetzlich tolerierten Arbeitsverträgen unterschieden werden (darunter auch gesetzlich tolerierte Formen der Ausbeutung von Frauen und Kindern innerhalb von Familien)? Fragen darüber, was eine ausbeuterische Beschäftigungspraxis auszeichnet, sind umstritten – sie waren historisch, und sind heute immer noch, die zentralen Schwerpunkte der organisierten Arbeiterbewegung im Kampf für einen besseren Schutz der Arbeitnehmenden. In Ermangelung eines globalen politischen Konsens über Mindeststandards für Arbeitnehmende und länder- und branchenübergreifende Normen in Bezug auf Beschäftigungsverhältnisse ist es äußerst schwierig, einen Maßstab festzulegen, an dem „Ausbeutung“ gemessen werden kann. Niedriglohnbeschäftigung von Arbeitsmigrant*innen ist erlaubt und durch die Arbeitgeber nachgefragt, gerade weil sie ausgebeutet werden können. Wie kann man nun eine Linie ziehen zwischen „Opfer“ und „Nicht-Opfer,-sondern-nur-durch-die-übliche-Ausbeutung“ betroffenen Migrant*innen? Da die Überquerung internationaler Grenzen keine Voraussetzung für Menschenhandel ist, wie kann diese Unterscheidung zwischen gehandelten Migrant*innen und ausgebeuteten Arbeiter*innen gemacht werden, und warum soll sie gemacht werden? Die Schwere der Übergriffe und Ausbeutung kann variieren, was bedeutet, dass sie ein Kontinuum von Erfahrung erzeugen anstatt durch eine einfache Entweder/Oder-Dichotomie definierbar zu sein. Vorstellungen über den genauen Punkt auf diesem Kontinuum, an dem tolerierbare Formen von Arbeitsmigration aufhören und Menschenhandel beginnt, werden von unseren politischen und moralischen Werten abhängen. Doch egal ob Migrant*innen oder nicht, Arbeitende können nicht einfach in zwei getrennte und unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden – diejenigen, die unfreiwillig in das Elend der sklavereiähnlicher Arbeitsbedingungen in einem rechtswidrigen oder unregulierten Wirtschaftssektor gehandelt werden und diejenigen, die freiwillig und legal in der glücklichen und geschützten Welt der formellen Wirtschaft arbeiten. Gewalt, Freiheitsentzug, Nötigung, Täuschung und Ausbeutung können und treten tatsächlich sowohl in gesetzlich geregelten als auch unregulierten Arbeitsbereichen auf, und sowohl innerhalb legaler als auch illegaler Migrationsysteme.
Es stellt sich daher die Frage, warum Migration in diesen Debatten überhaupt wichtig ist. Warum ist es weniger abscheulich, in der eigenen Heimatstadt in die Prostitution oder zur Arbeit gezwungen zu werden als anderswo? Schließlich ist ja das Ergebnis – Ausbeutung und Missbrauch – das Problem, nicht der Ort, wo es stattfindet. Hier kommt die Vermischung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel ins Spiel.Sie ermöglicht es, jener Frage auszuweichen, die für Aktivist*innen zentral ist, die Staaten aber vermeiden wollen: Welche Rolle spielen Einwanderungskontrollen dabei, Verletzbarkeit für Ausbeutung und Missbrauch zu erhöhen? Bestimmte Varianten von Aufenthaltsstatus erzeugen marginalisierte Gruppen ohne Zugang zum formellen Arbeitsmarkt und zum Schutz, den Staaten ihren Bürger*innen und Arbeitnehmenden in der Regel anbieten. Es ist der Staat selbst, der dadurch Arbeitgeber*innen Mechanismen in die Hand gibt, mit denen sie ihre Arbeiternehmenden kontrollieren und behalten können, die ihnen sonst nicht zur Verfügung stehen würden, und die das Potenzial haben, missbraucht zu werden. Trotzdem wird die Aufmerksamkeit fast immer von dieser Frage zu den „bösen Arbeitgebern“ umgeleitet.
Die Figur der bösen Arbeitgeber*innen und Menschenhändler*innen wirft einen Schatten auf die Rolle des Staates bei der Konstruktion von Verletzbarkeit. Für die einzelnen Opfer von Menschenhandel oder Ausbeutung sind es die Arbeitgeber*innen, Zuhälter*innen oder Menschenhändler*innen, die den Zugang zu den grundlegenden sozialen Rechten, wie z.B. eine Krankenhausbehandlung, verweigern. Aber wenn nicht diese Einzelpersonen den Zugang verweigern würden, würde der Staat es tun. Tatsächlich stellt staatlich legitimierte Beschränkung des Zugangs zu sozialen Rechten eine der wichtigsten Quellen der Verletzbarkeit dar. Die hoch politische Realität der Rolle des Staates bei der Konstruktion von Verletzbarkeit von Nicht-Bürger*innen – eine Realität, mit potentiellen politischen Lösungen – wird durch den Aufruf an die Staaten, die Menschenrechte der Opfer des Menschenhandels zu schützen, verdeckt. Es ist bemerkenswert, dass es keinen ähnlichen Anruf für den Schutz der „Menschenrechte“ von „illegalen Einwanderern“ durch den Staat gibt.
Politik der Bürgerschaft (citizenship)
Der Diskurs über Menschenhandel muss als Teil eines allgemeineren Versuches gesehen werden, die Frage der Migration zu entpolitisieren. Betriebswirtschaftliche (managerialist) Diskurse sind auch ein wichtiger Teil dieses Prozesses. Die Hauptanliegen dabei ist es, zu überlegen, was wirtschaftlich Sinn macht und Sachverständige zu benennen, um die Feinheiten von Arbeitsangebot und -nachfrage festzulegen. Migrationspolitik wird somit eine Frage der Operationalisierung von technischem Ermessen anstatt ein politischer Prozess. „Vergewisserung“ besteht nun darin, die Öffentlichkeit zu vergewissern, dass die richtigen technischen Entscheidungen getroffen werden. Tatsächlich ist Migration aber eine der grundlegendsten politischen Fragen: Wer gehört zur politischen Gemeinschaft dazu?
Dies ist nicht nur eine formale Frage: Es ist auch eine Frage, wie eine politische Gemeinschaft geschaffen wird und wie mit ihr umgegangen wird.[6] Bürgerschaft ist nicht einfach ein Rechtsstatus, der durch den Staat verliehen wird. Sie ist ein dynamischer Prozess und sie wird aktiv konstruiert. Bürgerschaft wird durch eine Vielzahl von Akteur*innen verwirklicht, deren Handlungen durch die sozialen Strukturen und die materiellen Bedingungen ihres Lebens ermöglicht oder eingeschränkt sind. Wie Balibar argumentiert, können wir die Forderungen von Arbeitsmigrant*innen nach Rechten als „partiellen, aber direkten Ausdruck des Prozesses der Schaffung von Rechten [sehen], einer Dynamik, die es ermöglicht eine politische Verfassung als ‚Volkssouveränität’ oder Demokratie anzuerkennen“.
Bürgerschaft ist keine abstrakte Manifestation der staatlichen Macht; sie wird durch Individuen verkörpert und gelebt, die die Vorteile und/oder Privilegien dieser Mitgliedschaft genießen, verhandeln, oder es nicht schaffen, diese zu verhandeln. Sie ist ein Verhandlungsgegenstand, der durch eine kontinuierliche Interaktion zwischen Praktiken der Bürgerschaft und ihrer institutionellen Kodifizierung konstituiert wird. Die Frage nach den Rechten von Arbeitsmigrant*innen ist Teil dieser politischen Interaktion. Zu bestreiten, dass dies eine Arena der politischen Auseinandersetzung ist, indem Migration entweder als eine wirtschaftliche Frage behandelt wird, oder indem Rechtsverletzungen auf freischwebende Individuen zurückgeführt werden, schließt den Raum für eine Debatte.
Während „illegale“ Einwanderung und Menschenhandel häufig durch die Medien und durch eine Reihe von Innenminister*innen vermischt werden, qualifizieren sich nur die am stärksten viktimisierten Menschen – diejenigen, die nicht in der Lage sind für sich selbst zu handeln – als Betroffene von Menschenhandel und haben somit Anspruch auf die Unterstützung und den Schutz des Staates. Um den ‚Test‘ von Menschenhandel zu bestehen muss man ein „echtes“ Opfer sein: verletzt, leidend und versklavt. Da Opfer so definiert werden, dass sie Hilfe brauchen (durch den Staat, NGOs, die Polizei oder Kunden), werden sie nicht als politische Subjekte sondern als Objekte der Intervention gesehen. Opfer können sich nicht in der Sphäre des Politischen engagieren. Andere müssen in ihrem Namen handeln – und in der Tat gibt es eine Menge von Anti-Menschenhandels-Organisationen und Initiativen. Die Sprache des Menschenhandels verdeckt jegliche Vorstellung eines Kampfes und stabilisiert die durch Migration bewirkten politischen und sozialen Veränderungen, da sie Migrant*innen auf die Opferrolle beschränkt. Dies verstärkt die Vorstellung, dass man sich nicht mit Bürgerschaft als Prozess befassen kann, sondern nur mit der Bürgerschaft als formalem Rechtsstatus, der von einem allwissenden Staat verwaltet wird.
Doch sogar die Staatsbürgerschaft als ein formaler rechtlicher Status ist für die Opfer von Menschenhandel weit weg. In erster Linie ist es äußerst schwierig als Opfer von Menschenhandel anerkannt zu werden. Im Gegensatz zu den immer wieder genannten hohen Zahlen erkennt der Staat nur sehr wenige Menschen als Opfer von Menschenhandel an. Darüber hinaus gewährt der Status nur vorübergehend Rechte. Die Bedenkzeit von 30 Tagen – eine Chance für Betroffene von Menschenhandel zu überlegen, ob sie vielleicht rechtliche Schritte gegen Menschenhändler*innen unternehmen und dadurch einer Abschiebung entgehen – wurde erst nach intensiver Lobbyarbeit durch NGOs implementiert. Der Status eines Opfers von Menschenhandel impliziert nicht automatisch das Recht in Großbritannien zu bleiben; er beinhaltet einfach nur ein temporäres Recht auf Unterstützung und im Land zu bleiben, das wieder aufgehoben wird, nachdem das Opfer mit den Behörden zusammengearbeitet hat, um sie bei der Verfolgung der Menschenhändler*innen zu unterstützen. Was dann folgt ist, in der Sprache des Home Office, die Heimkehr und Wiedereingliederung der Opfer – alias Abschiebung. Die rechtliche Kategorie des Opfers von Menschenhandel zielt nicht auf den Schutz der Opfer ab, sondern eher auf die Verfolgung der Menschenhändler*innen. Durch die Zuweisung von temporären und an Bedingungen geknüpften Rechten normalisiert der Status „Opfer von Menschenhandel“ die Exklusion, die durch restriktive Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik produziert wird und dient dazu, die hierarchische Organisation des Zugangs zu Rechten und Bürgerschaft zu wahren.
Der Verweis auf die Menschenrechtsverletzungen, die von einzelnen Individuen begangen wurden – brutale Menschenhändler*innen und ausbeuterische Arbeitgeber*innen – verschleiert die Bedeutung der formalen Staatsangehörigkeit und des rechtlichen Status sowie die Rolle des Staates bei der Konstruktion von Verletzbarkeit durch die Verweigerung eines legalen Status. Rhetorik und Maßnahmen gegen Menschenhandel machen einen politischen Konflikt zu einem Flickteppich von Widersprüchen oder verhandelten Anpassungen von Interessen – dabei wird die Aushandlung und das Flicken in der Regel nicht durch Migrant*innen gemacht.
Fazit
Das weit verbreitete Unrecht, das so viele ertragen, macht viele Menschen betroffen, vor allem, wenn es nahe an zu Hause passiert und ein klarer Ausdruck globaler Ungleichheiten ist. Und die Begeisterung mit der „Anti-Menschenhandels“-Kampagnen und -Politiken begrüßt werden, ist eine Manifestation einer solchen Betroffenheit. Aber wenn Ausbeutung und Missbrauch beendet werden sollen, müssen Lösungen gefunden werden, die sich jenseits der Identifizierung von Opfern und der Inhaftierung von Menschenhändler*innen bewegen. Mit der Unterstützung von Anti-Menschenhandelspolitiken und -kampagnen besteht die Gefahr durch einen Taschenspielertrick getäuscht zu werden, der Illegalität und Menschenhandel vermischt und mit dem immer härtere Einwanderungskontrollen so dargestellt werden, als seien sie im Interesse der Migrant*innen. Einwanderungskontrollen produzieren Gruppen von Menschen, die als „abschiebbar“ gelten und damit besonders anfällig für Ausbeutung sind. Der Staat ist verantwortlich für die Aufrechterhaltung eines rechtlichen Rahmens, innerhalb dessen bestimmte Berufe und Sektoren dereguliert werden und außerhalb arbeitsrechtlicher Rahmenbedingungen existieren, und er ist mitverantwortlich dafür, dass Dritte von der Arbeit von Migranten profitieren, unabhängig davon, ob es in der Sexindustrie ist oder anderen Sektoren. Es ist daher wichtig, den Staat wieder in der Analyse zu berücksichtigen und staatliche Einwanderungs- und arbeitsrechtliche Vorschriften anzusprechen, die bei der Schaffung der Bedingungen, unter denen Menschenhandel und die Ausbeutung von Arbeitsmigranten florieren, eine wichtige Rolle spielen.
Verweise:
[1] Zum Beispiel haben das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels und die Richtlinie des Rates über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels einen Schwerpunkt auf Opfer-Schutzsysteme, aber diese sind auch Voraussetzung für die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden.
[2] Home Office, Secure Borders, Safe Haven. Integration with Diversity in Modern Britain, HMSO 2002.
[3] United States Government Accountability Office, Human Trafficking: Better data, strategy and reporting needed to enhance US anti-trafficking efforts abroad, US GAO 2006.
[4] Hansard, Col. 1263W, written answer by Vernon Coaker, Parliamentary Under-Secretary Home Office, to Ms Dari Taylor, MP, 19.3.08.
[5] E. Balibar, We, the People of Europe? Reflections on transnational citizenship, Princeton University Press 2004.
[6] Ebd.
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Der Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in „Soundings. A journal of politics and culture„. Originaltitel: Sex, slaves and citizens: the politics of anti-trafficking
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Übersetzung: Sonja Dolinsek; Korrektur: Susanne Kimm.
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