Ruth: Wie kam es zu Deinem Engagement in der Bewegung gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung?
Jes: Vor vier Jahren habe ich zum ersten Mal von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung (sex trafficking) gehört. Ich hatte an einer Stadtteilversammlung mit einer Freiwilligen-Organisation teilgenommen, wo es einen Vortrag zum internationalen und nationalen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung gab. Während des Vortrags verstand ich zum ersten Mal, dass ich Menschenhandel erfahren hatte und dass der Missbrauch nicht meine Schuld war. Hinzu kam, dass ich genau in dem Hotel, wo die Stadtteilversammlung abgehalten wurde, zwölf Jahre zuvor gehandelt wurde. In diesem Moment wusste ich, dass ich mich melden musste. Ich musste meine Erfahrung mit anderen teilen. Wenn ich selbst nicht das Bewusstsein darüber hatte, was ich erlebt hatte, dann wie viele andere Menschen musste es noch geben, die die gleichen Erfahrungen hatten? So begann meine Suche nach einem tieferen Verständnis der Sprache zur Beschreibung meiner eigenen Erfahrung und danach, wie wir am effektivsten Menschenhandel stoppen können.
Ruth: In Deinem Aktivismus beschäftigst Du Dich auch mit Rechten von Sexarbeiter*innen. Warum glaubst Du ist es wichtig, dass die Anti-Menschenhandels-Bewegung und die Sex-Worker-Bewegung zusammenarbeiten ?
Jes: Die Sexindustrie ist eine riesige globale Industrie, in der es sowohl Sexarbeiter*innen als auch gehandelte Menschen gibt. Umso mehr das Bewusstsein über Menschenhandel wächst, desto mehr erfahren Sexarbeiter*innen zusätzliches negatives Stigma, weil die meisten Menschen den Unterschied zwischen Sexarbeit und Menschenhandel nicht verstehen. Einfacher gesagt, bedeutet Menschenhandel, dass Menschen nicht selber entschieden haben in der Sex-Industrie zu sein und/oder sie durch Gewalt, Betrug oder Nötigung nicht verlassen können. Aufgrund einer Vielzahl von Gründen haben sich Sexarbeiter*innen hingegen für die Sex-Industrie entschieden. Als Abolitionistin glaube ich, dass alle Menschen als gleiche geschaffen sind und als solche behandelt werden sollten. Es wäre heuchlerisch von mir zu glauben, Menschenhandel auf Kosten der Prostituierten stoppen zu können. Ich weigere mich, eine ganze Gruppe von Menschen (Sexarbeiter*innen) zu entfremden, um einer anderen Gruppe von Menschen (Überlebende des Menschenhandels) zu helfen.
Ruth: Was denkst Du muss muss geschehen, damit die beiden Bewegungen sich stärker verbünden?
Jes: Der erste Schritt ist, eine Brücke der Verständigung, des Mitgefühls, der Liebe und Demut zu bauen. Wie können wir zwei Gruppen vereinen, ohne ein tiefes Verständnis der Erfahrungen und Meinungen der jeweils anderen zu haben? Anti-Menschenhandels-Organisationen und Einzelpersonen sind mit der Behauptung, dass die GESAMTE Prostitution Menschenhandel oder Sklaverei ist unglaublich verletzend gewesen und Sexarbeiter*innen entgegnen mit einer entsprechend starken Meinung. Wir alle müssen die Erlaubnis haben, zu wachsen und unsere Ansichten zu ändern, niemand von uns ist perfekt und es gibt keine Erfahrungen, die identisch sind; wir müssen voneinander lernen. Selbst meine eigene Sprache hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, weil ich immer mehr verstanden habe. Ich bin eine Expertin in meinen eigenen Erfahrungen und ich verstehe, dass andere Menschen zwar das gleiche Label haben, dass aber ihre Erfahrungen ganz anders sein könnten als meine eigenen. Beide Seiten müssen unvoreingenommen an einen hypothetischen Tisch kommen, aufrichtige Entschuldigungen müssen gegeben und angenommen werden und dann können wir uns als ein kollektives Ganzes voranbewegen.
Ruth: Welche rechtlichen Verbesserungen oder Änderungen würden helfen, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung abzuschaffen und gleichzeitig die Rechte von Sexarbeiter*innen zu gewährleisten? Ist es möglich die Menschenrechte und den rechtlichen Schutz gleichzeitig für beide Gruppen zu gewährleisten?
Jes: Ich glaube, dass die Entkriminalisierung der Prostitution der beste Weg zur Gewährleistung des Schutzes von Sexarbeiter*innen und Überlebenden von Menschenhandel ist. Die aktuellen Gesetze in den USA verstärken das System der Menschenhändler durch die Verhaftung und Inhaftierung von Betroffenen von Menschenhandel für Verbrechen, zu denen sie gezwungen wurden. Darüber hinaus kriminalisieren unsere Gesetze sowohl Sexarbeiter*innen und ihre wohl-gesinnten Kunden, sodass sie weniger Schutz vor gewalttätigen Kunden und Vergewaltigern erfahren. Wenn die Gesetze die Entkriminalisierung der Prostitution enthalten, können Sexarbeiter*innen gefahrlos Gewalt am Arbeitsplatz anzeigen und Überlebende von Menschenhandel sind in der Lage, Unterstützung bei den Strafverfolgungsbehörden zu suchen. Solange Vollzugsbeamte von Sexarbeiter*innen und Opfern von Menschenhandel nicht als „sichere Ansprechpartner“ gesehen werden, werden die meisten Gewaltverbrechen und Fälle von Menschenhandel nicht gemeldet werden. Strafverfolgungsbehörden müssen die Möglichkeit haben Menschen in ihrer Gemeinschaft unabhängig von ihrem gewählten Beruf zu schützen.
Ohne die Angst, wegen Prostitution festgenommen zu werden, können Sexarbeiter*innen eine Bereicherung für die Bekämpfung des Menschenhandels sein. Sexarbeiter*innen haben einen Einblick in die Sex-Industrie und, wenn sie einmal geschult sind, können sie Betroffene von Menschenhandel identifizieren und unsere größten Verbündeten bei der Anzeige von Menschenhandel und der Unterstützung jener Menschen sein, die ihre Menschenhändlern entkommen wollen. Als ich gehandelt wurde, war es eine Sexarbeiterin, die mir geholfen hat, zu entkommen und sie hat mich in diesen frühen Jahren meiner Heilung sehr unterstützt und ermutigt. Ich wusste, dass Strafverfolgungsbehörden mich nicht beschützen würden, denn ich hatte das Verbrechen der Prostitution begangen und ich hatte nur falsche Papiere, die mir von meinem Zuhälter gegeben wurden. Wenn ich die Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden gesucht hätte, damit sie mir bei meiner Flucht von meinem Menschenhändler helfen, wäre ich für ein Verbrechen ins Gefängnis gekommen, das ich erzwungenermaßen begangen habe.
Ruth: Für alle die etwas tun wollen, was können andere Menschen tun, um zu helfen?
Jes: Zuerst informiere Dich und dann handle! Die Sex-Industrie ist ein komplexer Ort, wo es viele systemische Aspekte gibt. Als kollektives Ganzes müssen wir folgende Aspekte angehen: Armut und nachhaltige Löhne, Gleichberechtigung, Arbeitnehmerrechte, sexuelle Gewalt in der Kindheit, stabile Familieneinheiten, häusliche Gewalt, Mobbing, und unsere Kultur, die Kinder übersexualisiert hat. Es gibt für alle einen Ort und ein Ziel und wir brauchen jeden Menschen, um die nächsten Generationen zu stärken.
Ruth: Was sind Deine Pläne für die Zukunft?
Jes: Meine erste und wichtigste Aufgabe ist es, für meine Familie zu sorgen, sie zu schützen und zu ernähren. Meine Lebensreise ist es, die Welt der Sexualität, der Gleichberechtigung und der Beziehungen zu erkunden. Mein Herz und meine Vision ist weiterhin die Aufklärung der Öffentlichkeit, um Vorurteile zu überwinden […].
Ruth Wo kannst Du online gefunden werden ?
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Dieses Interview ist ursprünglich auf der Webseite von Ruth F. Jacobs in der Reihe „Diskussion über die Vorteile einer Zusammenarbeit zwischen der Prostituiertenbewegung und der Anti-Menschenhandels-Bewegung“ (Discussing the Advantages of the Sex Workers’ Rights and Anti-Sex Trafficking Movements Working Together) und auf Women News Network erschienen.
Lizenz: Dieser Beitrag ist von der CC-Lizenz ausgenommen. Einer weitere Veröffentlichung ist nur unter Zustimmung von Ruth F. Jabos und „menschenhandel heute“ möglich.
[…] – Interview mit Jes Richardson, direkt davon […]
[…] A German translation of this interview can be read here. […]