Autorin: Eve Geddie (PICUM), ursprünglich veröffentlicht auf Englisch auf Open Democracy (16. Januar 2014) unter dem Titel „Undocumented migrants: Time to change European discourse“

Don’t give us your huddled masses: migrants arriving at Lampedusa. Flickr / Noborder network. CC BY 2.0
2013 war ein weiteres arbeitsintensives Jahr für Migrationskorrespondent*en. Während gegen Ende des Jahres die Angst vor der Migration von EU-Bürger*innen Schlagzeilen machte, blieben die Todesfälle von Migrant*innen an Europas Außengrenze eines der am meisten behandelten Themen. Waren der öffentliche Schock, die Medienberichte und die politischen Versprechen von Solidarität nach den Todesfällen auf See aber tatsächlich Zeichen eines echten Willens, Veränderungen zu bewirken oder wird die Zahl der Toten im Jahr 2014 weiterhin so bleiben?
Im Oktober ist in der Nähe der italienischen Insel Lampedusa ein Boot mit Hunderten von Migrant*innen an Bord gesunken, wobei mehr als 165 Menschen starben. Dies war nicht das erste noch wird es das letzte Boot mit Migrant*innen an Bord sein, das in den Gewässern der EU sinken wird, aber das Ausmaß des Ereignisses und seine breite Berichterstattung regten erneute Kritik am EU-Ansatz für die Grenzverwaltung und irreguläre Migration an.
„Eine sinnlose Tragödie“ – so berichteten Korrespondent*innen an Zuschauer*innen, während die Nachrichten über die Toten gebracht wurden. Doch der Begriff impliziert weniger Kausalität und eher Unglück als jedoch die gut dokumentierte Bilanz von Toten an der Grenze Europas vermuten lassen würde.
Während für viele Nachrichten-Zuschauer*innen und Leser*innen die Todesfälle von Lampedusa einen seltenen Einblick in das menschliche Leid ermöglichten, das an den Grenzen Europas stattfindet, sind solche Fälle nicht neu. In der Tat hat schon das europäische Netzwerk UNITED for Intercultural Action den Tod von mehr als 17.000 Migrant*innen seit 1993 als Folge der europäischen Einwanderungspolitik dokumentiert.
Als die EU und nationale Regierungschefs ihr Beileid an die Hinterbliebenen Lampedusas bekundeten, boten sie schnell EUROSUR als wasserdichte Lösung an. Dieses neue Europäische Grenzüberwachungssystem würde, sagten sie, für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten sorgen, um Migrant*innen zu schützen. Das Europäische Parlament, dessen ernsthafte Bedenken über mangelnde Rechenschaftspflicht und Transparenz in Bezug auf die Grenzschutzagentur Frontex dazu geführt hatte, dass zehn Millionen Euro des Budgets 2013 für die Einrichtung eines Grundrechte-Beauftragten bereitgestellt wurden, forderte plötzlich eine Aufstockung der Mittel für die am besten finanzierte operationelle Agentur der EU. Die EU-Kommission versprach, dass EUROSUR den Mitgliedstaaten helfen würde, Schiffe und Boote zu identifizieren und verfolgen, und damit Such- und Rettungsmaßnahmen zu verbessern.
Aber wird EUROSUR mit erwarteten operativen Kosten von 144 MIlliarden Euro in den nächsten sechs Jahren wirklich Todesfälle verhindern? Viele bleiben diesbezüglich skeptisch, weil das Mittelmeer bereits jetzt zu den meist patrouillierten Meeren der Welt gehört und es systematische Berichte über verweigerte Hilfe und Push-Backs durch Polizei, Grenzbeamte und Küstenwache gibt.
Unterstützung für Migrant*innen ohne Papiere, einschließlich der humanitären Hilfe, ist in vielen Mitgliedstaaten kriminalisiert.
Während der italienische Präsident Giorgio Napolitano das „Massaker an Unschuldigen“ beklagte, wurden diejenigen, die den Schiffbruch vor Lampedusa überlebt hatten, in Italien mit einem Strafverfahren wegen illegaler Einreise konfrontiert. Dies entsprach dem 2002 erlassenen „Bossi-Fini-Gesetz“, das von den jeweiligen Parteiführern der nationalistischen Lega Nord und der „postfaschistischen“ Nationalen Allianz in der zweiten Regierung von Silvio Berlusconi vorgebracht wurde. In der EU sind Gesetze, die illegale Einreise und Aufenthalt kriminalisieren üblich, was zu häufigen Verfolgungen von Menschen ohne Papieren und ihren Unterstützer*innen führt, in Frankreich zum Beispiel. Aber der Fall regte in Italien eine erneute Debatte über die Kriminalisierung von Migrant*innen an und eine durch die Tageszeitung La Repubblica initiierte Petition zur Aufhebung des Gesetzes sammelte mehr als 100.000 Unterschriften in vier Tagen.
Leider folgt die Debatte über Migration auf EU-Ebene einem Kreislauf:
1 . Migranten sterben;
2 . Regierungschefs betrauern die Toten, während die Überlebenden inhaftiert und verfolgt werden;
3 . Politiker zweifeln daran, dass restriktive und kontrollbasierte Politiken zu Tod und Leiden führen;
4 . es gibt Forderungen nach mehr kontrollbasierten und restriktiveren Maßnahmen;
5 . zurück zu Punkt 1.
Wenn der Tod von 165 Männern, Frauen und Kindern, der sich am 3. Oktober ereignete, doch wirklich als „Tragödie“ bezeichnet werden könnte, und wenn die gemeldete Vergewaltigung und Folter in Libyen einiger derjenigen, die auf der Reise starben, in der Tat nur ein „Unglück“ gewesen wäre und nicht das erwartete Ergebnis der Externalisierung der Grenzen der EU durch Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten, die die Verantwortung gegenüber Migrant*innen abwälzen und um jeden Preis verhindern sollen, dass sie die die EU erreichen.
Wenn bloß die Brutalisierung mehrerer Überlebenden des gleichen Bootes in einem italienischen Flüchtlingslager, die auf unscharfen Handy-Bildern aufgezeichnet wurden, nur „ein Unfall“ gewesen wäre und nicht symptomatisch für die oft obligatorische, gelegentlich unbefristete und systematisch unmenschliche Politik der Inhaftierung von Männern, Frauen und Kinder wäre – nur weil sie Migrant*innen sind. Anstatt nur kontingent zu sein, veranschaulichen diese Fälle den zunehmend schlecht informierten, elitären Ansatz der EU, ein Phänomen zu verwalten, wovor die Öffentlichkeit Angst hat, das die Medien missverstehen und die Politiker*innen stigmatisieren.
Faire und reguläre Migrationskanäle sind notwendig
Irreguläre Migrant*innen werden oft für Europas wirtschaftliche Missstände verantwortlich gemacht. Doch während in Ländern wie Griechenland, Italien und Spanien rassistisch motivierte Verbrechen und populistische Diskurse Migrant*innen zum Sündenbock machen und eine weitere Einschränkung ihrer Rechte fordern, sind die meisten der undokumentierten Migrant*innen in Europa nicht irregulär eingereist. Stattdessen haben die meisten von ihnen Schwierigkeiten bei der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis oder bei der Einhaltung der zunehmend hohen Anforderungen für die Erneuerung. In vielen Fällen rutschen Migrant*innen durch die Ausbeutung durch ihre Arbeitgeber in die Illegalität oder sie verlieren ihren Status, da ihr Visum an eine Ehe gebunden ist.
Die durch die EU geförderte Forschungsinitiative „Clandestino“ hat gezeigt, dass ein irregulärer Aufenthalt weitgehend das Ergebnis von Ausbeutung, Fehlinformationen und administrativer Verzögerungen ist, während der irreguläre Grenzübertritt der seltenste Weg in die Irregularität darstellt. Die Schätzung von insgesamt 1,9 bis 3,8 Millionen irregulären Migrant*innen in der EU stellt eine klare Herausforderung für die sehr versierte Erzählung in den Medien und von Politiker*innen dar.
Was wir brauchen, sind bessere und gerechtere Migrationswege für Drittstaatsangehörige, die in Kernbereichen der EU-Wirtschaft arbeiten wollen. Das erfordert einen neuen Ansatz.
Nach Stockholm
Während für die meisten von uns Überlegungen und Entscheidungen jährliche Prozesse sind, legt die EU ihre Vorgaben und Zielsetzungen für mehrere Jahre fest. Von Tampere zu Den Haag und zuletzt das Stockholmer Programm, die EU Rahmenwerke für Justiz und Inneres legen Prioritäten und Aktionen für fünf Jahre auf einmal fest.
Diese haben sich konstant von dem Ziel der Gleichstellung (near-equality) aller Einwohner*innen in der EU, das ein starkes Fundament in den Menschenrechten hat, wegbewegt, hin zu der Idee, dass Rechte nur Bürger*innen zustehen – und dass ein „Sicherheits“-Ansatz für Migration benötigt würde, um Grundrechte der EU-Bürger*innen zu schützen. Dieser Ansatz wird jedoch durch Erfahrungen vor Ort in Frage gestellt, da die zunehmende Versicherheitlichung und Diskriminierung von Migrant*innen weder die Freiheit, Sicherheit und Wohlbefinden der EU-Bürger*innen verstärkten noch die irreguläre Migration reduzierten.
Da dieses Jahr das Stockholm-Programm (2010-2014) zu Ende geht, wird die Europäische Kommission eine Evaluation dieses Ansatzes durchführen, bevor ein neues Rahmenwerk zu Migration und Asyl entwickelt wird. Wenn letzteres eine Besserung herbeiführen soll, muss anerkannt werden, dass Migration keine kriminelle Aktivität ist und dass die Politik, die sie als solche behandelt unwirksam, unangemessen und gefährlich ist.
Politische Äußerungen von Schock müssen der Erkenntnis weichen, dass es den Gründungszielen und –prinzipien der EU sowie der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, in ihrer Jurisdiktion die Rechte aller Menschen unabhängig von ihrem administrativen Status zu schützen, widerspricht, Migrant*innen Gewalt, Ausbeutung, Menschenhandel und Tod auszusetzen – und Familien durch Inhaftierung, Abschiebung und Einschränkungen bei der Familienzusammenführung auseinander zu reißen.
Stellvertretend für mehr als 160 Organisationen, die die Rechte von Migrant*innen ohne Papiere in Europa und anderen Teilen der Welt verteidigen, wird PICUM mit ihren Mitgliedern einen Fünf-Punkte-Plan für einen neuen Aufbruch in der EU-Migrationspolitik ausarbeiten. PICUM fordert das Missverständnis heraus, dass Migrant*innen ohne Papiere ‚ illegal‘ sind – das eher die symptomatische Wirkung einer schlecht durchdachten Migrationspolitik kriminalisiert, anstatt die Ursachen des Verlustes des Status angeht – und will die EU-Migrationspolitik und -praxis hin zu einem humaneren, effektiveren, kostengünstigeren und rechtebasierteren Ansatz bewegen.
Im Jahr 2014 und darüber hinaus wird will das Netzwerk die EU zur Rechenschaft ziehen und sicherstellen, dass sie ihren Weg korrigiert.
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Die englische Version dieses Artikels wurde unter folgender Lizenz veröffentlicht: