Ja, wir müssen uns mit dem Thema Prostitution, der Frage beschäftigen, wie man die Arbeits- und Lebensbedingungen von Prostituierten verbessern kann und wie man Menschenhandel verhindern kann. Aber nicht so. Dieses Buch ist der falsche Ansatz sowohl bei der Bekämpfung des Menschenhandels (der auch in anderen Branchen stattfindet) als auch bei Stärkung der Rechte von Sexarbeitenden. Das Buch wühlt emotional auf, bietet aber kaum eine Quelle an, wenn es um Fakten geht.
Was für ein Wissen ist das, was Alice Schwarzer verkauft? Wie fundiert ist es und was kann man damit anfangen? Kann ich überhaupt solche Fragen an ein Buch herantragen, das weiter entfernt von Wissenschaftlichkeit nicht sein könnte? Wie kann ich ein Buch rezensieren, das auf der Prämisse fundiert zu sein scheint, dass man Wissen erfinden kann, solange die Botschaft ankommt? Und die Botschaft ist klar: Prostitution gehört abgeschafft.

Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden?
ISBN: 978-3-462-04578-9
Erschienen am: 07.11.2013
336 Seiten, Paperback
Im Gegensatz zu anderen bisher erschienenen Rezensionen, möchte ich keine Zitate mit fragwürdigen Fakten und Zahlen zitieren. Ich möchte hingegen die behaupteten Daten und Fakten unter die Lupe nehmen. Zuerst aber ein Blick in die Struktur.
Vier Groß-Kapitel, die wiederum kleinere Kapitel enthalten, strukturieren das Buch. „Die Folgen der Reform und der Widerstand“, „Ich will nicht länger lügen – Prostituierte reden“, „Reicher Sextourist und arme Prostituierte“, „Blick zurück und Block nach vorn“. Eine „Chronik von 1871-2013“ rundet alles ab. Die meisten Artikel sind Abdrucke von Beiträgen, die schon in der EMMA erschienen sind. Oft sind die Beiträge schon sehr alt (insgesamt 14 Beiträge), sodass man sich ernsthaft fragen muss, ob man daraus noch sinnvolle Informationen ziehen kann. Bei keinem Thema dürfte die Politik so dumm sein und zehn Jahre alte Statistiken oder Studien zu Rate ziehen, wenn es um die Lösung aktueller Probleme geht. Doch wenn Alice Schwarzer und ihr Buch völlig unwissenschaftlich daherkommen, handelt die Politik plötzlich, obwohl selbst die schon 2007 veröffentlichte Auswertung des Prostitutionsgesetzes die Schwächen des Prostitutionsgesetzes aufgezeigt hatte.
Zahlen – wann boomte der Menschenhandel?
Mit Zahlen kann man skandalisieren. Mit einem angeblichen „Boom“ auch, denn niemand wird das hinterfragen. Schließlich kommt die Aussage aus den Medien, aber auch von Schwarzer. Dass die empirischen Zahlen das nicht belegen, wird als nebensächlich abgetan. In diesem Buch wird das erst gar nicht erwähnt.
Im Gegensatz zu Schwarzers Behauptung, „boomt“ der Menschenhandel nicht seit 2002 sondern er boomte vor allem Anfang der 1990er Jahre. Eine kleine, aber außerordentlich interessante „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung von 1998 (gestellt durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger) zeigt, dass sich der Menschenhandel zwischen 1991 und 1996 (also noch weit vor der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes) verzehnfachte von 174 Betroffenen auf 1473. Auch die Kluft zwischen der Zahl der Tatverdächtigen und die Zahl der tatsächlich verurteilten war damals enorm. Im Schnitt wurden gerade mal ein Zehntel der Tatverdächtigen verurteilt. Die Erklärung dafür muss man sicher woanders suchen, denn das Prostitutionsgesetz gab es damals noch gar nicht. Und nicht die „Ostöffnung der EU“ hat „Frauenhandel“ verursacht, wie auf S. 75 befürchtet wird, sondern sie hat ihn zurückgehen lassen. Auch in der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass offene Grenzen, die Abhängigkeit von Zwischenhändlern und Migrationshelfern reduzieren und somit eine sichere und unabhängige Migration ermöglichen.
„Es sind die Grenzkontrollen, die Migranten gezwungen haben, gefährlichere Routen zu nehmen und die sie immer mehr von Schmugglern abhängig machten, um die Grenzen zu überqueren.“ (Quelle)
Seit 2002 hat der Menschenhandel weder zu- noch abgenommen und die Zahl der offiziell identifizierten Opfer von Menschenhandel liegt jährlich zwischen 600 und 800. Im Jahre 2012 hat die Polizeiliche Kriminalstatistik 558 Fälle von Menschenhandel erfasst. In diesem Buch werden diese Zahlen weggelassen. Stattdessen werden Anekdoten oder Geschichten über eigene Erfahrungen erzählt. „Ich hab das schließlich mit meinen Augen gesehen und deshalb ist es wahr und es trifft auf alle zu“ – das ist der Fehlschluss, den dieses Buch vermittelt. Einzelerfahrungen, auch jene von Journalisten, sind eben nur das: Einzelerfahrungen, die bewusst selektiert werden, um eine skandalisierende Reportage daraus zu basteln. Dass die Realität auch anders und wesentlich komplexer aussieht, wird verschwiegen.
Und wie viele Prostituierte gibt es? Während an der einen Stelle von 150.000 Prostituierten die Rede ist (S. 78), sind es Seiten früher 300.000, während im Appell gegen Prostitution nun von 700.000 die Rede ist. Wir reden hier von einem Unterschied in der Größenordnung von mehreren Hunderttausend! Quellenangaben gibt es keine. Ich sehe mich also berechtigt, diese Zahlen als Erfindung über Bord zu werfen. Alles andere wäre irrational.
Prostituierte als Gegner*innen? Doppelstandards und unterschiedliche Maßstäbe
Die Autorinnen legen für sich und ihre Gegnerinnen, den Prostituierten und ihren Projekten, unterschiedliche Maßstäbe an. Zwei Beispiele möchte ich nennen.
Wenn Sie z.B. die Berliner Beratungsstelle und Prostituiertenprojekt „Hydra“ kritisieren, tun sie das mit dem Verweis, dass meist „Sozialarbeiterinnen“ Interviews geben und „sehr selten Prostituierte“. Wenn aber die Sozialarbeiterin Sabine Constabel überall auftritt und gegen Prostitution wettert, dann sei das wohl legitim. Schließlich, so die dahinterstehende Annahme, gäbe es „gute“ und „schlechte“ Sozialarbeiterinnen. Und nur jene, die Prostitution auch abschaffen wollen, sind „gut“ – eine äußerst fragwürdige Annahme.
Das 1980 veröffentlichte Buch von Pieke Biermann „Wir sind Frauen wie andere auch“ (eine sehr empfehlenswerte Lektüre) wird mit dem Verweis kritisiert, dass dort nur vier (!) Prostituierte (das wird mit einem extra gesetzten Ausrufezeichen betont) zu Wort kommen. Man würde aufgrund der Kritik erwarten, dass im eigenen Buch nun mindestens „mehr“ als vier Prostituierte zu Wort kommen. Dem ist aber leider nicht so. Auch hier kommen nur vier (vier!) Prostituierte zu Wort. Eine davon ist die berühmte Domenica aus Hamburg und das Interview wurde schon 1988 geführt. Ein anderes, grade mal 5 Seiten langes Interview von 2013 wurde mit einer französischen Prostituierten geführt, die inzwischen die Prostitution abschaffen will, weil sie „Prostitution“ als Krankheit sieht (man fühlt an die diskriminierende Beschreibung von Homosexualität als Krankheit erinnert). Dass in Frankreich Prostituierte kriminalisiert sind, spielt dabei kaum eine Rolle – es ist z.B:.verboten auf der Straße zu stehen und passiv auf Kunden zu warten (racolage passif) und umherziehende, der Prostitution verdächtigen Frauen, können einfach von der Polizei mitgenommen werden. Ein weiteres Interview bzw. Text stammt von der ehemaligen und inzwischen verstorbenen Berliner Domina Ellen Templin. Das Interview erschien ebenfalls schon 2007, genauso wie der Text von Lisa.
Eine Betroffene von Menschenhandel kommt ebenfalls zu Wort – allerdings ist auch dieser Text schon 2004 erschienen, als z.B. das neue Gesetz gegen Menschenhandel noch gar nicht da war (das wurde 2005 eingeführt) und das Prostitutionsgesetz noch gar nicht richtig umgesetzt war (das ist es ja bis heute nicht). Vor allem aber waren 2004 die Grenzen zwischen der EU und Litauen, ihrem Herkunftsland, noch nicht offen. Abgesehen vom Alter des Textes (zehn Jahre) fällt auf, dass es sich bei der Betroffenen um eine damals Studentin der Volkswirtschaftslehre handelte. Weil sie ein Kind erwartete, musste sie das Studium abbrechen und deshalb ist sie nach Deutschland gekommen. Sie war aber wegen der geschlossenen Grenzen davon abhängig, dass jemand anders die Migration für sie organisiert, was sie letztendlich zum Opfer von Menschenhandel machte. Neun Tage lang wurde sie in einem Bordell zur Prostitution gezwungen. Gerettet wurde diese Frau von einem Freier, der mit ihr sprach und ihren Hilferuf bei der Polizei meldete. Dass die von Schwarzer geforderte Kriminalisierung von Freiern genau solche Fälle unmöglich machen würde (Freier müssten dann ja auch mit einer Strafe rechnen), müsste an dieser Stelle aber wohl noch dazu gesagt werden.
Bei allem Respekt für die im Buch abgedruckten Stimmen, fällt doch schnell auf, dass es kein aktuelles Interview mit einer deutschen Prostituierten gibt, deren Existenz nun auch performativ geleugnet wird. Es sind alles alte Interviews, teilweise von Frauen, die wir heute nicht mehr dazu befragen können, was sie z.B. vom Appell gegen Prostitution oder gar vom Appell für Prostitution halten.
Zum Schluss
Deutlich wird, dass Prostituierte als Gegner*innen erscheinen – vor allem dann, wenn sie Prostitution nicht abschaffen wollen und stattdessen für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpfen. Dann nämlich haben die Autorinnen kein Problem, sie und alle ihre Unterstützer*innen in die Ecke der „Frauenhändler“ zu stecken. Eine konstruktive und auf Teilhabe ausgelegte Diskussion wird damit von vornherein ausgeschlossen.
Wenn zuletzt die Beteiligung von Sexarbeiter_innen an politischen Prozessen, um mit ihnen (und nicht gegen sie) eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen, als „Verhurung der Emanzipation“ beschrieben wird, weiß man, wie die Damen den Begriff „Hure“ meinen: Als Beleidigung. „Hure“ ist was ekliges, perverses, abscheuliches. „Huren“ hört man deshalb auch nicht zu. „Huren“ gehören abgeschafft – zum Wohl der anständigen Frauen, die nicht „verhurt“ werden wollen.
Beim nächsten Mal wünsche ich mir mehr Ehrlichkeit, denn den Damen geht es in meinen Augen weniger um den Schutz der Prostituierten (die sie zu bevormunden und als Abschaum der Gesellschaft zu betrachten scheinen, die doch lieber „die Klappe halten“ sollen) sondern um den Schutz von sich selbst vor den Prostituierten, die ihnen Angst machen und von denen sie sich umzingelt fühlen und deren politische Forderungen sie am liebsten abschaffen würden.
Wenn sie hier von „Menschenwürde“ sprechen, scheinen sie doch eher „Scham“ und das „Schamgefühl“ zu meinen. Die Historikerin Ute Frevert schreibt in ihrem Buch, dass wir heute Schamgefühle eher mit dem Begriff der Menschenwürde ausdrücken. Über diese Moralisierung und Sexualisierung von Menschenwürde sollte man kritisch nachdenken. Denn warum sollten einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Erwachsenen die eigene Menschenwürde antasten? Vielleicht greifen sie das Schamgefühl bestimmter Menschen an. Aber ganz bestimmt nicht ihre Würde, die wir nicht missbrauchen sollten, um einen Diskurs zu führen, der Prostituierte diskriminiert und ausgrenzt.
„An die Stelle von Scham und Ehre rückte je länger, desto mehr eine Semantik der Würde, die allen Menschen eigen und und unverletzbar sei.“ (Ute Frevert, S. 39)
Wir müssen über Menschenhandel reden. Wir müssen über Sexarbeit reden. Aber nicht so!
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