Menschenhandel: „Prostitution steigt sprunghaft an“ – Beschwerde an den Deutschen Presserat

In vielen Artikeln über den EU-Bericht über Menschenhandel, der am 15. April 2013 vorgestellt wurde, wird in der Überschrift eine Zunahme der Prostitution in Europa suggeriert. Das ist falsch: Erstens ist das kein Ergebnis dieser Studie und zweitens gibt es keine Zahlen zur quantitativen Entwicklung von Menschen, die in der Sexarbeit tätig sind. 

BildschirmaufnahmeAm Montag, den 15. April 2013 hat die Eu-Kommissarin einen neuen statistischen Bericht über Menschenhandel in Europa vorgestellt. Dort wird u.a. darüber berichtet, dass in den drei untersuchten Jahren von 2008 bis 2010 Menschenhandel in Europa zugenommen hat. Das trifft auf alle Formen des Menschenhandels zu, also auch auf Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung.

Wichtig ist: An keiner Stelle werden Angaben über das Ausmaß der Prostitution in Europa oder konkrete Zahlen über die Anzahl der in Europa tätigen Sexarbeiter_innen benannt. Und das aus gutem Grund: Denn das ist keine Studie über Sexarbeit sondern über Menschenhandel.

Menschenhandel und Prostitution sind nach aktueller, auch europaweiter rechtlicher Lage, nicht als Synonyme zu betrachten. Insbesondere für Deutschland gilt, dass Prostitution (ProstG) und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (StGB §232) sehr unterschiedliche Sachverhalte und Handlungen darstellen. Auch die im Bericht explizit genannte Definition von Menschenhandel gibt an keiner Stelle konkrete Hinweise darüber, dass es sich um einen Bericht über Sexarbeit und Prostitution handelt. Gegenstand der Studie seien verschiedene Formen von Menschenhandel, darunter Ausbeutungsformen sexueller Natur, die folgendermaßen benannt werden:

„the exploitation of the prostitution of others or other forms of sexual exploitation“ (S. 21)

„Sexual exploitation includes exploitation for forced prostitution“ (S. 23)

Auf S. 38-39 finden Sie ferner Angaben darüber, welche Daten die EU-Länder der EU-Kommission zur Verfügung gestellt haben. Daten über Prostitution und Sexarbeit werden (und auch nur teilweise) nur von Frankreich geliefert.

An keiner Stelle wird „Prostitution“ ohne den Zusatz des Zwanges als Form sexueller Ausbeutung, d.h. als Menschenhandel identifiziert sondern nur „forced prostitution“ wird als solcher beschrieben. Die Redaktionen hätten also dem Bericht gemäß „Zwangsprostitution“ als Begriff wählen können. Schließlich wurde auch der Begriff Zwangsarbeit“ (und nicht der Begriff „Arbeit“) verwendet. Die Redaktionen hätten natürlich auch von einer Zunahme der „Arbeit“ (an der Stelle von „Zwangsarbeit“) sprechen können… Es ist jedoch offensichtlich, warum das wenig Sinn ergibt und offensichtlich falsch ist.

Um einen weiteren Vergleich zu liefern: Die Überschrift „Menschenhandel und Prostitution nehmen zu“ ist analog zu einer Schlagzeile zum Thema sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen, die folgendermaßen lauten würde: „Sex und Vergewaltigungen nehmen zu“. Dass Sex und Vergewaltigungen nicht das Gleiche sind, ist offensichtlich. Obwohl eine Vergewaltigung eine Form von Sex ist, kann daraus nicht auf die Anzahl sexueller Handlungen allgemein geschlossen werden und umgekehrt. Das gleiche trifft auf das Verhältnis zwischen Prostitution und Menschenhandel zu.

Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass alle Überschriften der unten stehenden Artikel den deutschen Pressekodex verletzen. Insbesondere wurden folgende Bestimmungen des Pressekodex verletzt:

Ziffer 2: Sorgfalt

„…Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden….“

In den meisten Fällen, die wir hier dem Presserat vorlegen, ist zwar der Inhalt der Artikel korrekt, jedoch wird dieser durch die Überschrift „verfälscht“. In den Artikeln selber ist nicht die Rede ist von einer Zunahme der Prostitution sondern nur noch von einer Zunahme des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung oder der „Ausbeutung von Prostituierten“. Das deutet darauf hin, dass sich die Autorinnen und Redaktionen sehr wohl über den Unterschied bewusst sind. Dennoch lautet der Inhalt der Überschrift anders und deutet auf eine Zunahme der Prostitution im Allgemeinen hin. Somit wurde die Überschrift auf eine Weise verfälscht, dass Sie die zu berichtenden Inhalte entstellt und nicht mehr wahrheitsgemäß wiedergibt. Wer also nur die Überschriften gelesen hat, hat eine falsche Information aufgenommen.

Ziffer 1: Wahrhaftigkeit und Wahrung der Menschenwürde

„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“

Es entspricht nicht der Wahrheit, dass dieser Bericht einen Anstieg der Prostitution in Europa feststellt. Was er darstellt, ist eine Zunahme des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Zwei Informationen sind falsch: 1. Dass Prostitution zunimmt und 2. Dass diese Information aus dem EU Bericht hervorgeht.

Fakt ist – es gibt keine Erfassung der Anzahl von Sexarbeiter_innen in Europa. In Deutschland wird die Anzahl der Sexarbeiter_innen nicht erfasst und in vielen EU-Ländern ist es ähnlich. Die Angaben in den in Frage stehenden Überschriften sind also nicht nur falsch sondern können als solche gar nicht existieren, weil es diese Zahlen schlicht und einfach nicht gibt. Es gibt nur Schätzungen, die im Prinzip auf nichts anderem beruhen als (vermutlich) auf von politischen Interessen geleiteten Spekulationen.

Die Artikel 

Hier eine Auflistung der Artikel (bzw. ihrer Überschrift), die aus den gerade genannten Gründen in ihrer Berichterstattung über den EU-Bericht über Menschenhandel den deutschen Pressekodex verletzt haben.

Stern (14.04.2013, 12:13 Uhr):Zwangsarbeit und Prostitution in Europa steigen an“ (Link: http://www.stern.de/politik/ausland/eu-studie-zu-menschenhandel-zwangsarbeit-und-prostitution-in-europa-steigen-an-1997031.html)

Die Welt (15.04.2013, ohne Uhrzeit:Menschenhandel und Prostitution nimmt zu“ (Link: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article115283302/Ausland-Kompakt.html)

Focus Online (14.04.2013, 11:00 Uhr: „Prostitution und Zwangsarbeit steigen sprunghaft an in Europa“ (Link: http://www.focus.de/politik/ausland/eu-studie-zu-menschenhandel-prostitution-und-zwangsarbeit-steigen-sprunghaft-an-in-europa_aid_960034.html)

N-TV (15.04.2013, 01.08 Uhr):Prostitution und Zwangsarbeit: Menschenhandel in der EU nimmt zu“ (Link: http://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Menschenhandel-in-der-EU-nimmt-zu-article10472051.html)

Sueddeutsche Zeitung Online (14.04.2013, 17:01 Uhr):Mehr Opfer von Menschenhandel – aber weniger Verurteilte. Zwangsarbeit, Prostitution, Organhandel: (…)“ (Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-studie-mehr-opfer-von-menschenhandel-aber-weniger-verurteilte-1.1648648)

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