von Doro Winkler und Susanne Syetter
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Rundbrief 51 vom November 2012 der FIZ – Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (Zürich) veröffentlicht. —
In den letzten drei Jahren haben elf Frauen aus Nigeria in der FIZ Unterstützung gesucht. Sie standen zum Zeitpunkt ihres Kontakts fast alle im Asylverfahren. Sie haben alle den Kontakt abgebrochen und sind aus unserem Blickfeld verschwunden. Grund genug, die Situation nigerianischer Frauen in der Schweiz, die mit dem FIZ in Kontakt traten, näher zu beleuchten.
Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und weist eine grosse kulturelle Vielfalt auf. Die Menschenrechtslage ist schlecht: Gewalt, Korruption, ethnische Konflikte und grosse Armut tragen dazu bei, dass viele Menschen im Ausland ein besseres Leben suchen. Dies nützen MenschenhändlerInnen aus. Die Anzahl nigerianischer Frauen, die von Frauenhandel betroffen sind, steigt in ganz Europa, längst nicht mehr nur in Italien. In Deutschland wurden 2010 insgesamt 46 Gerichtsfälle mit nigerianischen Opfern behandelt,in Frankreich geben Nigerianerinnen an, dass sie sich zuvor in der Schweiz aufgehalten, hier aber keinen Schutz erfahren hätten.
Die Mehrheit der nigerianischen Frauen, die von Frauenhandel betroffen sind, wurden bereits als Minderjährige in die Ausbeutung gehandelt.
Nigerianische Opfer von Frauenhandel unterscheiden sich in ihrer Ausbeutungsgeschichte nicht wesentlich von anderen. Was auffällt ist, dass sie mehrheitlich sehr jung sind und in der Regel bereits als Minderjährige in die Ausbeutung gehandelt wurden. Bis zur Erkennung als Opfer von Menschenhandel vergehen oft Monate oder Jahre. Wenn sie mit 17, 18, 20 in der Schweiz landen, haben sie bereits mehrere Jahre in der erzwungenen Prostitution in verschiedenen europäischen Ländern hinter sich – die einen Frauen sind von MenschenhändlerInnen in die Schweiz gebracht worden, andere sind vor ihnen in die Schweiz geflohen.
Wenn Frauen fliehen, müssen die unter der Kontrolle der HändlerInnen zurückgebliebenen Opfer für die Schulden der geflohenen Frauen aufkommen.
Oft jahrelange Reisen
Manchmal investieren HändlerInnen einen namhaften Betrag in die Reise (etwa 8000 Euro für Tickets, Visa, Schmuggler). Die Opfer werden für einige Tage in Nigeria vorbereitet und lernen dort, wie sie sich während der Reise zu verhalten haben. Dann reisen sie per Flugzeug nach Europa. Das Risiko, dass sie ihr Zielland nicht erreichen, ist gering. In anderen Fällen werden nur kleine Beträge (200-300 Euro) in die Reise investiert. Mehrere Frauen und Mädchen werden gleichzeitig über Land, durch die Wüste und über das Meer gebracht. Sie sind ein bis drei Jahre unterwegs. Sie werden bereits auf der Reise gezwungen, sich zu prostituieren, und oft werden sie von den Reisebegleitern (sogenannten Trolleys) sexuell ausgebeutet oder Dritten angeboten. Einige kommen auf der Reise ums Leben.
Schwarze Magie
Der grösste Teil der nigerianischen Frauen, die nach Europa gehandelt werden, stammt aus Benin City, der Hauptstadt des Bundesstaates Edo im Süden Nigerias. Sie kommen aus sehr armen Verhältnissen und werden von Bekannten oder Verwandten für eine Arbeit im Ausland angeworben. Die Anwerbung erfolgt mit falschen Versprechungen. Die MenschenhändlerInnen («Madams» genannt, wenn sie Frauen, «Ogas», wenn sie Männer sind) treten manchmal schon in Nigeria, zuweilen aber auch erst im Zielland in Erscheinung. Im Zielland haben sie, zusammen mit europäischen KomplizInnen, Kontakt zu den AnwerberInnen in Nigeria. Sie organisieren die Reise und agieren in den Zielländern als ZuhälterInnen. In der Regel machen sie mit ihrem späteren Opfer einen schriftlichen Vertrag, in dem diese sich zur Rückzahlung fiktiver, absurd überhöhter Schulden (45000–70 000 Euro für Reise, Papiere und Visen) verpflichten. Als Druck- und Drohmittel wird ein pervertiertes religiöses Ritual benützt, der sogenannte Juju-Schwur. Juju-Rituale sind nicht mit der Religion Voodoo gleichzusetzen. Bei Voodoo handelt es sich um einen Trancekult, der der Heilung von Menschen dient und sie vor Übeln aller Art schützt. Im Gegensatz dazu sind die im Menschenhandel verwendeten Juju-Rituale Schwarze Magie, mittels der die Opfer in Todesangst versetzt werden, sollten sie die eingegangene Verpflichtung brechen. Die Angst der Betroffenen ist real, und die Bedrohung ist es auch: Als Vergeltung für die Flucht aus der Ausbeutungssituation und die Zusammenarbeit mit Behörden und Polizei können Familienangehörige verletzt oder getötet werden. Oder Frauen werden mit physischem oder sozialem Tod bedroht – und in der nigerianischen Gesellschaft läuft das auf dasselbe hinaus, denn niemand kann hier ohne soziales Netz überleben. Wenn Frauen fliehen, müssen die unter der Kontrolle der HändlerInnen zurückgebliebenen Opfer für die Schulden der geflohenen Frauen aufkommen.
Aussageverhalten
Im letzten Jahr haben über 70 Prozent der neu identifizierten Opfer von Frauenhandel, die von FIZ Makasi unterstützt wurden, gegen die Täterschaft ausgesagt. Von den nigerianischen Frauen war keine bereit, auszusagen. Weil die Nigerianerinnen sich in einem Asylverfahren befanden, lebten sie in grosser Unsicherheit. Um auszusagen, bräuchten sie eine sichere und geborgene Lebenssituation – stattdessen wohnten sie in Durchgangszentren und Notunterkünften. Sie bräuchten Ruhe und sozialen Halt – stattdessen befanden sie sich sozial isoliert in kleinen und überfüllten Räumen, manchmal mit einem auf der Reise geborenen Kind, dessen Vater den Täterstrukturen angehört. Sie bräuchten Sicherheit und Stabilität – stattdessen lebten sie in ständiger Angst vor der Rückschaffung in die Hände der Ausbeuter.Alle nigerianischen Frauen, die den Weg in die FIZ gefunden hatten, haben nach einiger Zeit den Kontakt abgebrochen und sind verschwunden. Wir wissen nicht, ob sie von MenschenhändlerInnen aufgespürt wurden oder aus Angst vor dem Brechen des Juju-Schwures wieder in die Ausbeutungssituation zurückgekehrt sind. Wenn Nigerianerinnen hierzulande als Menschenhandelsopfer identifiziert werden, ist dies der individuellen Aufmerksamkeit einzelner im Asylverfahren zu verdanken. DieseAufmerksamkeit ist wichtig – aber die Entdeckung von Menschenhandel darf nicht dem Zufall überlassen werden. Es braucht vielmehr Strukturen, die eine Aufdeckung ermöglichen.
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Susanne Seytter ist Geschäftsführerin, Doro Winkler Öffentlichkeitsbeauftragte der FIZ. Die FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration setzt sich für den Schutz und die Rechte von Migrantinnen ein, die von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind. Die FIZ weist auf Missstände hin und fordert dringend nötige Verbesserungen für Opfer von Frauenhandel und andere gewaltbetroffene Migrantinnen. Zu diesem Zweck führt sie zwei Beratungsstellen: die Beratungsstelle für Migrantinnen und die spezialisierte Interventionsstelle Makasi für Opfer von Frauenhandel. Die Fachstelle leistet zudem bildende und politische Arbeit.