Am kommenden Dienstag, den 6. November 2012 geben die kalifornischen Bürger_innen ihre Stimme nicht nur für die Präsidentschaftswahlen ab. Sie werden auch über verschiedene „ballot propositions“ abstimmen. Eine „ballot proposition“ stellt ein Instrument direkter Demokratie dar. Überwiegen die „Ja“-Stimmen, wird die proposition Gesetz.
Am 6. November wird auch über die umstrittene Prop 35 (offizielle Seite hier) abgestimmt, die sich dem Thema „sexuelle Ausbeutung“ und „Menschenhandel“ widmet. Die kritischen Stimmen, die sich gegen die Prop 35 erhoben haben, sind jedoch laut geworden und ihre Argumente sind wichtig – denn Proposition 35 scheint „Menschenhandel“ zu instrumentalisieren, um u.a. Sexarbeiter_innen zu Sexualstraftäter_innen zu machen, die auch als solche registriert werden müssen und in gleichem Maße, wie Menschenhändler_innen, bestraft werden können.
Auf den ersten Blick ist die proposition 35 unterstützenswert, denn Menschenhändler_innen und Sexualstraftäter_innen sollen durchaus dafür bestraft werden, wenn sie eine Person ausbeuten, sei es jetzt in der Prostitution oder in anderen Gewerben. Sexuelle Ausbeutung und Gewalt darf nicht gebilligt werden. Proposition 35
- erweitert den Begriff „human trafficking“ (Menschenhandel). So würde z.B. die Verbreitung von pornographischem Material mit Minderjährigen als Menschenhandel eingestuft werden können – auch wenn die Person, die diese Materialien verbreitet, keinen Kontakt zu der abgebildeten minderjährigen Person hat oder je hatte.
- erhöht die Strafen für erzwungene Prostitution auf bis zu 20 Jahren und erzwungene Arbeit, bzw. Ausbeutung von Arbeit, auf bis zu 12 Jahre sowie Erhöhung der finanziellen Strafen auf bis zu 1,5 Millionen Dollar.
- betont, dass eine frühere Tätigkeit von „Opfern von Menschenhandel“ in der Prostitution, nicht die Glaubwürdigkeit derselben vor Gericht einschränken darf oder sie dafür bestraft werden dürfen.
- erweitert die Anforderungen des sogenannten „Sex Offenders Registry„. Sogenannte „sex offenders“ müssen in den USA registriert werden. Mit der proposition 35 würden sie zusätzlich einer kompletten Überwachung der Internetaktivitäten unterzogen.
Mit dem Bild „böser Menschenhändler“ im Kopf, klingen diese Vorschläge plausibel und nützlich, ja sogar wünschenswert. Aber dem ist nicht so, da auch Sexarbeiter_innen, die weder Opfer noch Täter von Menschenhandel sind, in hohem Maße negativ von Prop 35 betroffen sein könnten.
Im Unterschied zu Deutschland, wo Sexarbeit und Prostitution weitgehend als Dienstleistung anerkannt und akzeptiert ist, ist Prostitution in den USA, auch in Kalifornien, komplett kriminalisiert. Eine Person, die sexuelle Dienstleistungen gegen Entgelt anbietet, begeht in den USA eine Straftat. Durchschnittlich werden in den USA jährlich ca. 75.000 Personen verhaftet und verurteilt, weil sie im Sexgewerbe tätig waren oder sind – zu diesen Personen gehören auch freiwillig arbeitende Sexarbeiter_innen. Mit der Prop 35 besteht die Gefahr, dass die Kriminalisierung von Sexarbeiter_innen eine Stufe weiter getrieben wird und diese nun als „sex offenders“, als Sexualstraftäter_innen, registriert werden müssen und, genauso wie andere „sex offenders“ – Pädophile, Vergewaltiger, usw. – 24/7 überwacht werden.
„California’s Prop 35: A Misguided Ballot Initiative Targeting the Wrong People for the Wrong Reasons“ (Melissa Gira Grant)
Das Hauptproblem der Proposition 35 ist, dass sie nicht nur auf sogenannte Menschenhändler abzielt sondern auch auf Sexarbeiter_innen. Dies trifft im übrigen auf die meisten anti-trafficking Gesetze in den USA zu, da Sexarbeit kriminalisiert ist und entweder als Straftat (der Sexarbeiter_innen und der Kunden) gilt oder aber aber als Menschenhandel. Doch die Folgen der prop 35 wären weitereichender.
Im folgenden zitiere ich aus „California’s Prop 35: A Misguided Ballot Initiative Targeting the Wrong People for the Wrong Reasons“, einem Artikel von Melissa Gira Grant.
„Proposition 35 fügt sich in diese gefährliche Vermischung ein: Die überlappende Matrix der Gesetze gegen Menschenhandel, die zunehmend akzeptierte Verwechslung von kommerziellem Sex mit Menschenhandel, die in diesen Gesetzen gefunden werden kann und die Anliegen der Aktivist_innen. Wird sie angenommen, wird Prop 35 weitere schwere Strafen für das mit sich ziehen, was sie als „sexuelle Ausbeutung“ beschreibt – ein potenziell weitreichender Begriff, der jede Art von kommerziellem Sex umfassen kann, ob nun Gewalt, Betrug oder Zwang im Spiel waren oder nicht.
Nach Prop 35 könnte jede Person, die im Sexgewerbe irgendwie tätig ist, potenziell als in Menschenhandel verwickelt angesehen werden. Diesen Personen könnten nach der Neudefinition vom „Menschenhandel“ im Gesetz auch die dort genannten Strafen verhängt werden, wie z.B. Geldbußen zwischen $ 500.000 und $ 1.000.000 oder Haftstrafen von fünf Jahren bis lebenslänglich. Diese Strafen werden zusätzlich zur Pflicht verhängt, sich als Sexualstraftäter zu registrieren und der Hingabe an eine lebenslange Internet-Überwachung: das heißt, alle „Internet-Kennungen“ müssen weitergegeben werden, „jede E-Mail-Adresse, jeder Benutzername, jeder Bildschirmname oder ähnliche Kennung, die benutzt werden, um an Forumsdiskussionen, Chatroom-Diskussionen, Instant-Messaging, Social Networking oder ähnliche Internet-Kommunikation“ teilzunehmen.
Aktivist_innen sagen, dass die Verwechslung von Sexarbeit mit Menschenhandel nicht nur Menschen in der Sexindustrie gefährdet, sondern dass sie Überlebenden von Menschenhandel nichts bringt. …
Wird sie angenommen, könnte Proposition 35 dazu führen, dass auch jemand, der oder die in Kalifornien in der Zeit nach 1944 wegen Prostitutionsdelikten (prostitution-related offenses) verurteilt wurde, sich ebenfalls als Sexualstraftäter_in registrieren lassen muss und zu lebenslanger Internet-Überwachung verurteilt wird. Dies ist der Grund warum Naomi Akers, Direktorin des St. James Infirmary, ein Arbeits- und Gesundheitsschutzklinik, die von und für Sexarbeiter_innen in San Francisco betrieben wird, sich stark gegen den Gesetzesentwurf geäußert hat. Auf einem Facebook–Bild, das schnell in den Online-Communities von Sexarbeiter_innen verbreitet wurde, schrieb Akers „Ich habe eine frühere Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen 647A “ – das heißt, „unzüchtiges Verhalten“ (lewd conduct) und ist eine der häufigsten Anklagen kalifornischer Strafverfolgungsbehörden gegen Sexarbeiter_innen – „als ich als Prostituierte auf den Straßen gearbeitet habe und wenn Prop 35 durchgeht, werde ich mich als Sexualstraftäterin registrieren müssen.“
Prop 35 macht es möglich, „dass wegen Prostitutionsdelikten verurteilte Menschen in die Sexualstraftäterliste aufgenommen werden“, sagte Juhu Thukral, Leiter des Rechts-und Lobbyarbeit bei The Opportunity Agenda sowie Gründer und ehemaliger Direktor des Sex Workers‘ Project. …
Historisch und bis zum heutigen Tag wurden diese Anklagen überproportional häufig gegen Frauen in der Sexarbeit (cisgender und transgender), transgender Frauen, ob sie nun Prostituierte sind oder nicht, und Schwarze Frauen (PoC), sowie homosexuelle Männer und „gender nonconforming people“ gerichtet. Dies ist eine fehlgeleitete und gefährliche Überreichweite eines Gesetzesentwurfes, der angeblich zum Schutz genau dieser Personen dient.“
[Petition] NEIN zu Proposition 35!
Sollten Sie Freunde in Kalifornien haben, wird es Zeit, dass Sie sie mal wieder anrufen. Am 6. November wird dort nämlich nicht nur über den nächsten Präsidenten abgestimmt, sondern auch über eine umstrittene Gesetzesinitiative, die es ermöglichen würde, wegen Prostitutionsdelikten verurteilte Menschen und ihre Familienmitglieder in die Sexualstraftäterliste aufzunehmen. Helfen Sie mit, dass Kalifornier gegen Proposition 35 stimmen!
http://www.causes.com/causes/800029-vote-no-on-proposition-35/actions/1698969?recruiter_id=138001143&utm_campaign=invite&utm_medium=wall&utm_source=fb