Ohne die Teilnahme von Sexarbeiter_innen werden wir das Blatt nicht wenden können (crossblogged)

Dieser Beitrag wurde am 23. Juli 2012 auf RHRealityCheck. Reproductive Health and Justice unter dem Titel „We Can’t Turn the Tide on HIV Without the Participation of Sex Workers“ veröffentlicht und für die Weiterveröffentlichung auf diesem Blog übersetzt.

Im Mai, als wir bis zum Hals in der Organisation für den „Sexworker Freedom Festival“ steckten, hörten wir, dass Sexarbeiter_innen in Griechenland zwangsweise auf HIV getestet und verhaftet wurden, wenn der Test positiv ausfiel. Zunächst einmal ist es eine Verletzung der Menschenrechte, jemanden mit Gewalt ohne ihre/seine Zustimmung zu testen. Das gilt auch für Sexarbeiter_innen. Was noch hinzu kommt: Eine Person in einem Gesundheitszustand zu verhaften, der behandelt werden muss  – wie würden Sie das nennen, wenn nicht eine Verletzung der Rechte des Einzelnen? Wie ein Mitarbeiter des Gesundheitswesens sagte: „Die öffentliche Gesundheit kann nicht durch die Bestrafung der Patienten geschützt werden.“

Die griechische Episode geht weit über das übliche Niveau von Rechtsverstößen, mit denen Sexarbeiter_innen regelmäßig konfrontiert werden, hinaus. In einer bizarren Wiederholung der „Verurteilung des Opfers“ wurden die Frauen, deren Testergebnisse positiv waren, wegen „vorsätzlicher schwerer Körperverletzung“ angeklagt, obwohl viele nicht wussten, dass sie HIV-positiv waren, da sie keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem oder freiwilligen Testeinrichtungen haben. Wie hätten sie wissentlich eine Infektion verbreiten können, von der sie nichts wussten?

Als ob das nicht schon schlimm genug sei, wurden die Namen und Fotos von denen, deren Testergebnisse positiv waren auf der griechischen Polizei-Website veröffentlicht. Ihr HIV-Status wurde somit in einer Weise öffentlich gemacht, die schlicht und einfach ihr Recht auf Vertraulichkeit und Privatsphäre verletzte, ihre Stigmatisierung steigerte und sie Gewalt aussetzte. Die erste Frau, die somit „namentlich genannt und angeprangert wurde“, war eine 22-jährige russische Prostituierte, deren Bild  in Zeitungen und auf Plakaten erschien. „Man kann nicht den medizinischen Zustand einer Person ohne ihre Zustimmung veröffentlichen“, sagte sie damals einem Journalisten.

Was ist die Botschaft solcher verfehlten Initiativen? Die erste Botschaft ist, dass Sexarbeiter_innen nicht zählen und nicht vor dem Gesetz als Menschen anerkannt werden. Dass, obwohl wir Bürgerinnen und Bürger und Menschen sind, man uns weiterhin unsere Bürgerrechte, unsere Menschenrechte und unsere Arbeitsrechte verweigert. Die zweite Botschaft ist, dass wir noch weniger zählen, wenn wir nicht Bürger sind – zum Beispiel, wenn wir undokumentierte Migrant/-innen sind, die ihre Länder auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen haben. Migrant/-innen in der Sexarbeit haben noch weniger Rechte als andere Sexarbeiter_innen und werden oft abgeschoben, wenn sie als HIV-positiv identifiziert werden. Es ist diese tägliche Verletzung unserer Rechte, die uns anfälliger für HIV macht (durch die Verweigerung von für uns sichere Orte zum Arbeiten und Leben) und uns zu Missbrauch und Diskriminierung macht.

Auf dem „Sexworker Freedom Festival“, dessen Startschuss in Kalkutta an diesem Wochenende fiel, werden wir uns auf die Rechte und Freiheiten, die uns allen zustehen, konzentrieren:

  • Die Bewegungsfreiheit und das Recht auf Migration
  • Freier Zuganz zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen
  • Die Freiheit, zu arbeiten und die eigene Arbeit auszuwählen
  • Die Freiheit, uns zusammenzuschließen und uns gewerkschaftlich zu organisieren
  • Die Freiheit, durch das Gesetz geschützt werden
  • Die Freiheit von Missbrauch und Gewalt
  • Die Freiheit von Stigmatisierung und Diskriminierung

Wir werden laut für die Anerkennung von Sexarbeit als Arbeit plädieren, wir werden uns der Kriminalisierung von Sexarbeit widersetzen und unterstützen die Freiheit der Sexarbeiter_innen zur Selbstorganisation und Selbstbestimmung. In Abwesenheit von all diesen Freiheiten werden HIV-Präventionsmaßnahmen, Programme und Anstrengungen wirkungslos bleiben.

Unser Fest beginnt zur gleichen Zeit wie die „Internationale AIDS-Konferenz“ – am Sonntag in Washington, DC. Es ist ironisch, dass der AIDS-Konferenz-Slogan „Turning the Tide Together“ lautet, wenn zwei der Bevölkerungsgruppen, die am stärksten von HIV betroffen sind, Sexarbeiter und Personen mit einer Drogenkonsumvergangenheit, die Einreise in die USA verweigert wird und daher nicht anwesend sein können – wir sind ein wesentlicher Teil der Lösung. Aus Protest gegen die diskriminierende Politik der USA organisieren wir die bisher größte weltweite Versammlung mit mehr als 120 Prostituierten aus 42 Ländern und 400 indischen Sexarbeiter_innen, um unsere Stimme zum Protest zu erheben gegen die Ungerechtigkeit der Organisation der Internationalen Konferenz in einem Land, in dem wir nicht einreisen dürfen.

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Die Autorin Ruth Morgan Thomas war über 30 Jahre in der Sexindustrie tätig, 8 Jahre als Sexarbeiterin, 2 ½ Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Edinburgh mit einem Schwerpunkt auf HIV-Risiken in der Sexindustrie und über 20 Jahre als Aktivistin für die Rechte von Sexarbeiter_innen in einem britischen, europäischen und globalen Kontext. Sie ist die Global Coordinator des „Global Network of Sex Work Projects (NSWP)“ und derzeit Co-Vorsitzende der „UNAIDS Advisory Group“ zum Thema HIV und Sexarbeit im Namen des NSWP.

Ein Kommentar

  1. Nicht nur, dass hier massiv Menschenrechte verletzt werden- man muss mal überdenken, was dieses abscheuliche Vorgehen in Griechenland für die Bekämpfung von Aids bedeutet. Welche Prostituierte- oder Frau, welche ja verdächtigt werden kann eine Prostituierte zu sein- geht sich freiwillig testen, wenn sie damit mittelalterliche Prangermethoden für sich riskiert? Dasselbe gilt für viele Staaten in den USA, wo sogar einvernehmlicher Sex mit Kondomen für HIV-Positive Menschen auf Antrag strafbar ist, auch wenn der Sexpartner über die Infizierung informiert wurde. Wenn die HIV-Infizierte Person aber NICHT um ihre Infizierung weiss, ist es nicht strafbar…Nicht-Testen wird also indirekt belohnt.

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