Zum Umgang der EU mit Migrant_innen und ihren Helfer_innen
Die EU stellt sich als sicherer Zufluchtsort für verfolgte Menschen dar. Teil dieser Darstellung ist der proklamierte Schutz von Flüchtlingen vor „Schleusern“ und „Menschenhändlern“, weshalb deren Verfolgung verstärkt wird. Migrant_innen werden allerdings erst durch Grenzen und Abschottungsmaßnahmen der EU gezwungen, auf gefährliche Mittel und Wege der Migration zurückzugreifen und ihr Leben für viel Geld anderen Menschen anzuvertrauen. Die staatliche Verfolgung und ein kriminalisierender Diskurs gegenüber Fluchthelfer_innen dienen aber nicht in erster Linie dem Schutz von Flüchtlingen, sondern sind vielmehr Teil der Abschottungspolitik ihnen gegenüber.
Im September 2009 wurden die tunesischen Fischerei-Kapitäne Abdelkarim Bayoudh und Abdelbassit Zenzeri von der italienischen Justiz zu zweieinhalb Jahren Haft und 440’000 Euro Strafe verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatten zwei Jahre zuvor 44 Menschen aus hoher See im Mittelmeer gerettet und an die nahegelegene italienische Küste gebracht. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie beim Ansteuern der italienischen Insel Lampedusa Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet hatten. Zur Gefängnis- und Geld-Strafe kam der Verlust ihrer Schiffe, die von den italienischen Behörden beschlagnahmt und dem Verfall überlassen worden waren. Abdelbassit Zenzeri verlor zudem auch noch seine Fischereilizenz. Erst vier Jahre nach dem Vorfall wurden sie im Berufungsverfahren freigesprochen. Der Vorwurf war zu Beginn des Verfahrens allerdings noch härter: „Verdacht auf Förderung der illegalen Zuwanderung“. Von italienischen Institutionen und Medien war sogar suggeriert worden, es handele sich bei den Festgenommenen nicht um Fischer_innen, sondern um Schleuser_innen oder gar Menschenhändler_innen.
Ein ähnlicher Fall hatte sich schon 2004 ereignet, als zwei Mitarbeiter_innen der humanitären Organisation Cap Anamur, Elias Bierdel und Stefan Schmidt, inhaftiert und angeklagt wurden, weil sie in Seenot geratene Flüchtlinge aus dem Mittelmeer nach Italien gebracht hatten. Auch sie wurden verdächtigt, Menschenhändler_innen zu sein und von der Rettungsaktion zu profitieren.
Zunehmend wird im Kontext von irregulärer Migration – das heißt staatliche Grenzen überschreitende Wanderungsbewegungen, die sich der Kontrolle der betroffenen Staaten entziehen – von „Menschenhandel“ gesprochen. Pauschal werden Menschen, die anderen Menschen beim Überschreiten von Grenzen helfen, als Menschenhändler_innen stigmatisiert und sie werden mit Ausbeutung, Unmenschlichkeit und organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht. Dabei ist das Überschreiten von staatlichen Grenzen für viele Menschen ein Weg, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern oder gar ihr Leben vor Krieg, Krankheit oder staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung zu retten. Da sich die EU immer stärker abschottet und ihre Außengrenzen immer stärker überwacht, wird Hilfe durch orts- und sach-kundige Menschen zunehmend benötigt. Doch die steigende Bedeutung der sogenannten Schleuser_innen ist nicht nur Folge der Abschottungspolitik der EU, die Migrant_innen teuer, oft sogar mit dem Leben bezahlen müssen. Sie dient führenden Politiker_innen als Argument zu Überwachung der EU-Außengrenze und verdächtiger Personen, um den Aktivitäten von „Schleuserbanden“ ein Ende zu bereiten. So ist der Diskurs um „Schleuser“ und „Menschenhändler“ im Bereich irregulärer Migration nicht nur Folge der Abschottungspolitik, sondern Legitimation und Instrument ihrer Durchsetzung. Und die Migrant_innen, gegen die sich die Maßnahmen der Abschottungspolitik eigentlich richten, werden als Nutznießer_innen und gerettete Opfer dargestellt.
Dass der Schutz von Flüchtlingen bloße Rhetorik ist und die EU sich eher vor Flüchtlingen schützen will, zeigen Grenzüberwachung, rigorose Abschiebepolitik, Rücknahme-Abkommen mit despotischen und menschenrechtsverletzenden Regimen wie etwa dem libyschen Regime unter Muammar al-Gaddafi und weitere systematische Verletzungen der Genfer Flüchtlingskonvention durch EU-Staaten.
Ein weiterer trauriger Teil dieses Bildes ist ein Fall von unterlassener Hilfeleistung durch (supra-)staatliche Institutionen, der im Abschlussbericht einer Untersuchung eines Schiffsunglücks im Mittelmeer durch den Europarat beschrieben wird. Der im März 2012 veröffentlichte Bericht kommt zum Schluss, dass weder die NATO noch FRONTEX – die Organisation zum „Grenzschutz“ der EU – im Jahr 2011 einem in Not geratenen Schiff mit Migrant_innen an Bord zur Hilfe kam, obwohl ihnen ein Notruf gesendet wurde und sogar eines ihrer Schiffe in der Nähe war. Das Schiff der Migrant_innen wurde nach wochenlanger Irrfahrt zurück an die libysche Küste getrieben. Bei der Rückkehr nach Libyen hatten 63 der 72 Passagiere ihr Leben verloren.
This report is the consequence of that call for an inquiry and it has been prepared on the basis of an in-depth investigation into what happened to the “left-to-die boat”. The report shows the failures – human, institutional and legal – that contributed to the death of 63 people and makes recommendations to avoid such tragedies happening in the future. These deaths could have been avoided, as, undoubtedly, could many of the hundreds of other deaths at sea in 2011. (Bericht des Europarats, „Lives lost in the Mediterranean Sea: who is responsible?„, S. 5)
Ein ausführlicher Text des Autors zum Bedeutungswandel der Figuren „Schleuser“ und „Fluchthelfer“ wird voraussichtlich in der Ausgabe 27 des Magazins Hinterland des Bayerischen Flüchtlingsrats erscheinen.
[…] Betrachtungen oder Ambivalenzen, wie es sie zu Zeiten der „Fluchthilfe“ aus der DDR gab, haben im neuen „Schleuser“-Diskurs keinen Platz. Und die Fokussierung auf Menschen, die Hilfe bei der Migration leisten, lenkt ab von der […]