„Halfway solutions will seldom work: the only thing worse than no data is wrong and misleading data.“ (Describing the unobserved, Tyldum/Brunovskis 2005, S. 30)
Wie viele Menschen werden jedes Jahr Opfer von Menschenhandel? Wie viele davon sind Frauen und wie viele von ihnen werden zur Prostitution gezwungen? Wie viele Kinder arbeiten auf Kakaoplantagen? Wie viele Opfer von Menschenhandel gibt es jetzt – am heutigen Tage?
Die Antwort: Wir wissen es nicht – wir wissen nicht, wie viele Menschen Opfer von Menschenhandel sind.
Bevor Sie enttäuscht im Internet weitersuchen, bis sie endlich schockierende Zahlen gefunden haben, lade ich Sie ein, noch ein bisschen weiterzulesen. Denn die Zahlen, die Sie anderswo finden, sind nur Schätzungen und nicht eine objektive Darstellung der Dinge. Sie sind mit Vorsicht zu genießen.
Warum gibt es keine verlässlichen Daten über Menschenhandel?
1) Keine einheitlichen globalen Daten
Es gibt keine globale Datenbank, die Daten aus erster Hand sammelt. Daten, Zahlen und Statistiken werden vor allem von Regierungen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) zur Verfügung gestellt, d. h. dass alle „globalen Zahlen“ aus zweiter Hand stammen. Warum ist das problematisch?
Zwar haben inzwischen die Mehrheit der Staaten ein Gesetz gegen Menschenhandel, aber die Definition von Menschenhandel, der Opfer und des Umgangs der Polizei und der Gerichte mit Menschenhandel unterscheidet sich weiterhin. Ein Fall, der in einem Land in der Statistik landet, fällt in einem anderen Land raus – weil die Gesetze und Definitionen anders sind. In anderen Staaten werden hingegen Daten zu Menschenhandel mit Daten über irreguläre Migration oder Prostitution aggregiert bzw. vermischt, sodass verschiedene Sachverhalte anhand nur einer Zahl den Weg in die Statistik finden.
Die Daten, die wir aus zweiter Hand von verschiedenen Akteuren bekommen, sind also nicht vergleichbar, sodass eine saubere globale Statistik fast unmöglich ist – wir können nicht sicher sein, dass alle Statistiken das gleiche Phänomen erfasst haben. Wir haben also höchstens Daten von einzelnen Staaten und Organisationen.
2) Die Unsichtbarkeit von Menschenhandel und der Betroffenen
Die Opfer und Überlebenden von Menschenhandel sind in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit nicht sichtbar, sie gehören zur sogenannten „versteckten Bevölkerung“ (hidden population). Die „Unsichtbarkeit“ gehört schon fast zur Definition von Menschenhandel. Das bedeutet, dass:
- es schwer ist überhaupt Opfer von Menschenhandel zu identifizieren (u. a. um sie zu zählen). Wäre es so einfach, dann wäre auch seine Bekämpfung viel einfacher.
- „versteckte Bevölkerungen“ sind meistens stigmatisiert und/oder illegalisiert (z. B. Prostituierte und undokumentierte Migrant/innen). Um sich selbst zu schützen und weil sie den Behörden nicht vertrauen, werden sie auch nicht mit den Behörden kooperieren oder ohne weiteres sich auf Gespräche mit SozialarbeiterInnen oder ForscherInnen einlassen. Selbst wenn sie Opfer von Menschenhandel sind, das zeigen Untersuchungen, wenden sich Menschen aus diesen Gruppen aus Angst und Misstrauen eher nicht an die Polizei oder andere Institutionen.
- selbst wenn Opfer von Menschenhandel identifiziert werden, ist davon auszugehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt, also eine höhere Zahl an Menschen, die nicht als Opfer von Menschenhandel entdeckt werden. Die offiziellen Statistiken über Menschenhandel liefern also kein vollständiges Bild.
3) Übertriebene und empirisch nicht verifizierbare Zahlen in den Medien
Insbesondere Zahlen von NGOs und AktivistInnen sind oft unrealistisch und „übertrieben“, da sie bewußt öffentliche Aufmerksamkeit und Interesse erregen wollen. Hier sollte immer nach der Quelle/dem Ursprung der Daten sowie der methodischen Handhabung gefragt werden. Idealerweise sollten die LeserInnen versuchen diese Zahlen in der Originalquelle oder einer ausgiebigen Online-Recherche nachzuprüfen.
Eine falsche Darstellung des Ausmaßes von Menschenhandel (sowohl eine Unterschätzung als auch eine Überschätzung) kann nämlich negative Auswirkungen haben, da Lösungen und Politiken empfohlen werden, die nicht für das tatsächliche Ausmaß des Problems geeignet sind.
4) Wer wird als Opfer von Menschenhandel identifiziert?
Nicht nur die rechtlichen Definitionen sondern auch der praktische Umgang in den einzelnen Staaten führen dazu, dass es keine einheitlichen Maßstäbe zu Identifikation der Opfer gibt. Wer in einem Land „Opfer“ ist, könnte in einem anderen Land sogar als „TäterIn“ gelten. Auch dies schlägt sich in den Statistiken nieder.
In gewisser Weise führt das klassische Bild des Opfers von Menschenhandel als „Zwangsprostituierte“ dazu, dass diese eher als Opfer von Menschenhandel erkannt werden. So werden z. B. Opfer von Zwangsprostitution, insbesondere im jungen Alter, eher als Opfer identifiziert, als Männer, die Opfer von Zwangsarbeit sind. Insbesondere bei Migrantinnen und Migranten, die außerhalb des Sex-Gewerbes Opfer von Zwang und Ausbeutung werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Opfer von Menschenhandel erkannt und geschützt werden, sehr gering. Sie fließen also nicht in die Statistiken mit ein – die Zahlen sind also durch eine statistische Voreingenommenheit (statistical bias) verzerrt.
5) Die Zahlen, die wir haben, sagen wenig über das tatsächliche Ausmaß von Menschenhandel aus…
…Dennoch geben die verfügbaren Zahlen Auskünfte. Eine ansteigende Zahl von identifizierten Opfern von Menschenhandel über Jahre hinweg ist z.B. ein Indikator für eine zunehmende Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehördengegenüber Menschenhandel, sowie einer steigenden Priorität der Verfolgung solcher Fälle. Die Zahlen zeigen also nicht eine Zunahme von Fällen sondern eine Zunahme gesellschaftlicher und behördlicher Aufmerksamkeit. (Tyldum/Brunovskis: S. 24)
Die verfügbaren Zahlen sind auch nicht repräsentativ. Wir können nicht wissen, ob wir nur die „Spitze des Eisbergs“ erfasst haben oder ob wir fast alle Fälle aufgedeckt haben. Das führt zu einem weiteren Problem.
6) Vorurteile und Verzerrungen in Untersuchungen über Menschenhandel (selection bias)
Obwohl die verfügbaren Zahlen und Fälle nicht repräsentativ sind, werden oft Untersuchungen durchgeführt und in Auftrag gegeben, die diese Fälle untersuchen sollen. Diese Untersuchungen schlagen Schätzungen vor und produzieren Beschreibungen der „typischen Opfer“ von Menschenhandel. Da aber die Zahlen und Fälle, worauf die Untersuchungen basieren, nicht repräsentativ sind, sind auch die Untersuchungen nicht repräsentativ. Trotzdem werden sie oft auf diese Wiese interpretiert, sodass sich ein Diskurs über „das typische Opfer von Menschenhandel“ etablieren konnte, der auf einem verzerrtem Bild von Menschenhandel basiert.
Insbesondere führt die Konstruktion des „typischen Opfers“ dazu, dass es unvorstellbar wird, dass Personen mit anderen Hintergründen und Biographien auch Opfer sein können.
Vor allem Frauen, die willentlich und freiwillig im Sexgewerbe arbeiten (wollten) oder früher dort gearbeitet haben und irgendwann zur Prostitution gezwungen werden, werden eher nicht als Opfer anerkannt. Aufgrund ihrer Entscheidung werden sie als „unwürdig“ oder „schuldig“ eingestuft und fallen nicht nur aus der Statistik raus. Sie werden auch nicht von allen Beratungsstellen betreut und unterstützt. Das Bild des „typischen Opfers“ von Menschenhandel geht von einer sexuell „unschuldigen“ Frau aus und das hat negative Folgen für alle weiblichen Opfer von Menschenhandel, die diesem Bild nicht entsprechen.
„Any production of data or estimates of victims of trafficking should be based on clear conceptual, but also practical, identification of who the target group is, and who the inferences are valid for. Furthermore, any estimate should clearly state which stage of trafficking is being focused on – whether the target groups are persons at risk of being trafficked, persons recently recruited, persons currently trafficked, or former victims of trafficking.“
Ein vergleichender Beitrag über die Zahlen, die es gibt, ist in Vorbereitung.
Dieser Text beruht auf folgenden Quellen:
Describing the Unobserved: Methodological Challenges in Empirical Studies on Human Trafficking (Guri Tyldum/Annette Brunovskis), in: Frank Laczko und Elzbieta Gozdziak (2005): Global Survey of Research on Human Trafficking (PDF)
United Nations Office on Drugs and Crime: Global Report on Trafficking in Persons (2009) (insbesondere ab S. 18)
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[…] Regimen und Graden der „Legalisierung der Prostitution“, die vermutlich auch einen globalen Vergleich derselben schwierig machen würden. Denn Zahlen und Statistiken sind blind für die praktische Umsetzung von Gesetzen und für […]