Every year thousands of women are promised a dance career in Western Europe
Sadly they end up here
„Fragezeicheneffekt“ nennt es eine Bloggerin der Mädchenmannschaft. Seitdem ich mich intensiver mit „Menschenhandel beschäftige“, gibt es kaum eine Kampagne, die nicht diese Wirkung auf mich hat. In diesem Fall erlebte ich eine ausgesprochen emotionale Reaktion – als hätte ich bis heute nichts über Zwangsprostitution gewusst, als wüsste ich nicht, dass unzählige Menschen auf dieser Welt täglich Formen von Gewalt, Ausgrenzung, Diskriminierung, Ausbeutung und anderen Formen menschenverachtenden und menschenrechtswidrigen Verhaltens ausgesetzt sind. Zwangsprostitution ist nur eine der vielen Formen von Menschenhandel – und das weiss auch „Stop the Traffik“.
TRAFFICKING IS…
to be deceived or taken against your will, bought, sold and transported into slavery for sexual exploitation, sweat shops, child brides, circuses, sacrificial worship, forced begging, sale of human organs, farm labour, domestic servitude.
Dass ich trotz meines breiten Bewusstseins über Menschenhandel emotional reagiert habe, war mein persönlicher Fragezeicheneffekt. Was genau fand ich „traurig“, was hat mich angesprochen und warum ist dieser Spot so gut und gleichzeitig so schlecht?
Der Spot zeigt sechs Frauen verschiedener ethnischer Herkunft, die hinter den Fenstern in einem Haus im Rotlichtviertel in Amsterdam plötzlich unerwartet ihre Tanzkünste zeigen. Sie sind angezogen, wie Prostituierte. Die Passanten – fast alle (glaube ich) männlich – bleiben stehen und schauen zu, einige tanzen vergnügt und gut gelaunt mit. Am Ende klatschen und pfeifen sie. Bis die Zitate erscheinen und klar wird – das hier war kein Spass. Die Nachricht, die in diesem Beitrag am anfgang zitiert wurde, kann man so deuten: „Wir wollten eigentlich tanzen … hier in Westeuropa. Wir wollten nach Westeuropa kommen, um zu tanzen. Wir können tanzen, und zwar gut. Aber wir sind hier. Verkaufen müssen (oder können?) wir nur Sex.“
Meine Zusammenfassung unterscheidet sich diametral von anderen, die in diesem Spot eine Bestätigung ihrer Antiprostitutionshaltung sehen wollen, wie z.B. hier. Vielleicht bin ich blind, aber ich sehe nicht, wie „manche Männer sie wie Gebrauchsgegenstände“ behandeln. Die Männer interagieren mit den Frauen und ist nicht Interaktion das Gegenteil von einem Verhältnis zwischen einem Menschen und einem … Gegenstand?
Vermutlich habe ich das gesehen, was eine emotional-voyeuristische Reaktion auf diesen Spot nicht mehr zulässt. Der Spot an sich schließt diesen Aspekt jedoch sehr wohl ein: Migration von Frauen.
Was mich in diesem Spot traurig gemacht hat, ist die Tatsache, dass Migration von Frauen, die nicht von vornherein eine privilegierte Herkunft (welcher Art auch immer) haben, heutzutage unmöglich gemacht wird. Das Zitat zielt auf einen enttäuschten und mißlungenen Migrationsversuch ab. Leider geht der Spot aber nicht weit genug.
Er erzählt nichts über die Länder, aus denen Frauen ausreisen wollen.
Er erzählt nichts über die Schwierigkeiten als reguläre Migrantin oder als Flüchtling nach Europa zu kommen, denn die Hürden heißen „Außengrenzen“ der EU.
Er erzählt nichts über die Unmöglichkeit der Ausreise …und Einreise…, weil die Festung Europa nur noch wohlhabende Menschen haben will.
Er erzählt nichts über die Not der Frauen und über ihren Willen, ein besseres Leben zu finden. Ja, manchmal in Westeuropa. Aber es ist eurozentristisch anzunehmen, alle Menschen wollten nach Europa. Die meisten Migrationsströme führen an Europa vorbei… in den Nahen Osten, nach Asien, quer durch den amerikanischen und afrikanischen Kontinent.
Er erzählt nichts darüber, dass meistens ein nicht-legaler Aufenthaltsstatus die Verletzlichkeit der Frauen erhöht, ihre Ausbeutung sogar fördert. Mit der Ansage „Du wirst abgeschoben“ und mit dem Paßentzug werden sie erpresst. Ohne Papiere ist man/frau heute niemand. Nicht mal ein Mensch.
Er erzählt nichts über die Polizei und Ausländerbehörden, die Opfer von Zwangsprostitution verhaften und dann abschieben… weil sie meistens keinen legalen Status haben. Wie bekommen weder Betrueuung noch Unterstützung, geschweige denn Entschädigung.
Er erzählt nichts darüber, dass die Frauen migrieren wollten und dass manche (nein, natürlich nicht alle) eine bewusste Entscheidung getroffen haben, als sie in die Prostitution gegangen sind. Sie wollten nicht die dreckigen Wohnungen und Klos westlicher Familien putzen… und schon gar nicht, wenn sie so mieß bezahlt werden.
Er erzählt nichts darüber, dass auch das Bild der Tänzerin, die ja auch Geld mit ihrem Körper, ihrem Aussehen und mit ihrer Performanz von Weiblichkeit und weiblicher Sexualität Geld verdient, nicht unbedingt die Emanzipation der Frau fördert.
Er erzählt nichts über die hochqualifizierten Frauen, die migrieren undsehr oft mit einem Hochschulabschluss (gehört habe ich von Ärztinnen, ja sogar Ingenieurinnen) nach Europa kommen.. und aufgrund des expliziten politischen Willens vieler Staaten Jobs annehmen müssen, für die sie sicherlich nicht studiert haben: Ihr Abschluss wird nämlich nicht anerkannt. Sie arbeiten nun im Haushalt (ja, auch dort gibt es Ausbeutung) oder sonstwo.
Aber ein derartiger Spot würde nicht ziehen.
Wir reißen nur die Augen auf, wenn es um Sex oder Kinder geht. Also empören wir uns, wenn es um Prostitution oder Kinderarbeit auf Kakaoplantagen geht. Das ist richtig, aber am Ende glauben wir, dass das das ganze Bild ist, obwohl es nur ein kleiner Ausschnitt ist, den man uns als „einfach zu lösen“ verkauft.
Gleichzeitig empören wir uns nicht, wenn jeden Tag die Presse mal wieder über die Flüchtlingswelle, die gestoppt werden soll, und sog. „illegale Migranten“ berichtet, die abgeschoben oder auf unbefristete Zeit eingesperrt werden. Dass auch hier Menschenrechte verletzt werden und dass diese Verletzungen staatlich geduldet, ja sogar gefordert werden, interessiert wenige Menschen.
Wir empören uns nicht, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil erlässt, wonach Italien, die Nato und andere Länder für den Tod von Dutzenden von Migrant(inn)en im Mittelmeer verantwortlich gemacht werden. Darüber berichtet die deutsche Presse kaum.
Wenn wir uns also über Zwangsprostitution und über diesen Spot und seine Inhalte empören, müssen wir uns fragen, warum wir gegenüber diesen anderen Themen immun sind.
Wir müssen uns fragen, ob wir nicht wieder mal nur durch Sex in einer Kampagne geködert wurden.
Die Kampagne ist gut und gerechtfertigt. Gegen Zwangprostitution muss noch viel gemacht werden.
Was getan werden muss – außer sich zu empören – sagt uns die Kampagne nicht. Sie regt zur Empörung und nicht zur Reflexion an.
Wir sind danach genauso schlau, wie davor. Denn über das Phänomen und seine Komplexität haben wir nichts gelernt.
„On a related note, I have observed that the issue of trafficking in persons in Australia is sexualized and often conflated with prostitution. As I have noted in the course of my work as Special Rapporteur, there remains no conclusive link between the legalization or criminalization of prostitution and the existence of trafficking for sexual exploitation. There is need to move away from over-sexualizing the discourse on trafficking, which invariably contributes to the common stereotype of victims of trafficking as being women and girls forced into prostitution or other forms of sexual exploitation. Furthermore, awareness is required to ensure that anti-trafficking policies do not have the unintended consequence of causing gender discrimination against women. For example, I have learnt that migrant workers from certain countries and ethnicity who are considered vulnerable to sex trafficking may be denied visas or entry to Australia as part of the Government’s border enforcement regime. I wish to reiterate that vulnerability to trafficking is exacerbated by lack of equal opportunity and gender inequalities. Government policies should not be reinforcing these unhelpful stereotypes.“ (UN Special Rapporteur in Trafficking in Persons, especially Women and Children)
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Nachtrag September 2013: Eine Kritik der Kampagne ist nun auch auf English erschienen