- „Rund um den Hauptbahnhof gehören bettelnde Menschen wie diese Frau mit Kind fast schon zum gewohnten Bild.“ Goetzfried
Bettelnde Roma gehören zum alltäglichen Stadtbild westeuropäischer Innenstädte. Seit dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens haben auch europaweite Maßnahmen gegen bettelnde Roma, die sich antiziganistischer Motive bedienen, wieder Hochkonjunktur. So vermuteten unlängst etwa die österreichischen Medien, hinter den bettelnden Roma, weniger Bedürftigkeit, sondern vielmehr eine organisierte Bettlerkriminalität, Menschenhandel und Ausbeutung. Dabei sollen die Roma, die größtenteils aus osteuropäischen Ländern stammen, von „organisierten Banden“ und „Hintermänner“, in Bussen zum Betteln in die westeuropäischen Großstädte gebracht worden sein, um ihnen im Nachhinein das Geld abzunehmen. Frankreich löste mit der Abschiebung von mehr als 8000 Roma, allein im Jahr 2010, gar eine europaweite Debatte um die Situation der Roma in der EU aus, in deren Folge es sich mit dem Vorwurf der ethnischen Diskriminierung konfrontiert sah. In vielen europäischen Ländern gehören die Roma zu den Volksgruppen, denen starke Ablehnungsgefühle und Vorurteile entgegenschlagen, wodurch sie zu Opfern von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung werden. Ihre Ungleichbehandlung wird deshalb nicht selten als eines der dringendsten Menschenrechtsprobleme Europas angesehen. Denn lediglich jene Roma Familien schaffen es, sich gesellschaftlich zu etablieren, die ihre Ethnizität als Roma verbergen können.
Die Ursachen für die anhaltende Diskriminierung der Roma sind vielseitig. Länderstudien verweisen insgesamt auf eine Komplexität der Ausgrenzung und Ethnisierung der Roma- Bevölkerung. In allen europäischen Ländern kann von multidimensionalen Prozessen gesprochen werden, die sowohl Folge von Antiziganismus sind, als auch Folge der strukturellen sozialen Ausgrenzung (u. a. Bildungs- und Ausbildungssysteme, Arbeitsmärkte). Und sie hängen auch von der öffentlichen Sichtbarkeit dieser Bevölkerungsgruppe ab.
Den stereotypen Askriptionen und dem gesellschaftlich vorherrschenden Bild über die Roma kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Sie lassen sich nahezu über fünf Jahrhunderte zurückverfolgen und sind Teil eines kulturellen Systems von weitergegebenen Vorstellungen darüber, wie „Zigeuner“ angeblich sind (Grundmuster von Xenophobie). Dabei besteht zwischen Prozessen der gesellschaftlichen Ausgrenzung und den Praktiken der Bezeichnung ein enger Zusammenhang, da die gesellschaftliche Ausgrenzung als ein Prozess interpretiert werden kann, bei dem Semantiken und Praktiken ineinandergreifen. Denn auch Semantiken sind Praktiken, durch die soziale Tatsachen geschaffen werden. Die wichtigste Form der Exklusionssemantik stellt hierbei die Stigmatisierung dar. Es handelt sich dabei um solche Zeichenpraktiken, durch die aufgrund der Zuschreibung einer diskreditierenden Eigenschaft eine vollständige soziale Anerkennung verweigert wird. Um die Roma über 500 Jahre lang auszugrenzen, bedurfte es zwar einer Vielzahl von Geschichten, die ihnen diskreditierende Eigenschaften zusprechen. Allerdings sind es im Wesentlichen drei Eigenschaften, die einzeln oder in Kombination seit Jahrhunderten alle Zuschreibungen und Wertungen entwickeln: Nomadentum, Heidentum und Asozialität.
Während die biologische bzw. rassische Stigmatisierung über Jahrhunderte die dominante Form darstellte, und ihren Höhepunkt im Genozid und der Ermordung von etwa 500 000 Roma fand, ist es heute die kulturalistische Stigmatisierung. In teils latenten, teils offen rassistischen Zuschreibungen werden Roma als Trittbrettfahrer und Asyltouristen angesehen, deren Lebensweisen und Praktiken als einer fremden Kultur zugehörig dargestellt werden, die in Kontrast zu den herrschenden Wertemustern stehen.
Da die Chance allerdings ‚Zigeuner’ im Alltag kennenzulernen für die Mehrheitsbevölkerung, zumindest in westeuropäischen Gesellschaften, eher gering ist, speist sich ihr Wissen nicht aus realen Erlebnissen oder persönlichen Erfahrungen, sondern meist aus zweifelhafter Literatur, kollektiven Überlieferungen (Lexika), Alltagsgesprächen, Romanen, Opern und Operetten, Filmen und Presseberichten. „Kennt man einen kennt man alle“ ist das rassistische Muster, nach dem die öffentliche Meinung und Berichterstattung gestrickt ist. Das Ergebnis ist dann eine Mischung aus wenig Kenntnis und vielen stereotypen Vorstellungen, nach denen ‚Zigeuner’ als Abstammungs- oder kulturelle Gemeinschaft definiert werden und als assimilationsunfähig bzw. –willig.
Die hauptsächlich medial gesteuerte Stigmatisierung, stellt heute über das kulturalistische Stigma vom kriminellen ‚Zigeuner’, im Bereich der Polizeiarbeit und Medienöffentlichkeit die wirksamste Form von Antiziganismus dar. Die Berichterstattung über Roma ist dabei hauptsächlich eine Berichterstattung über Delinquenten. Roma werden überwiegend gemeinsam mit Akteuren der sozialen Kontrolle, wie Polizei, Justiz oder Ordnungsamt genannt und hauptsächlich als Täter oder im Zusammenhang mit Tätern thematisiert. Presseartikel über Roma berichten fast nie über Einzelpersonen, sondern es wird von mehreren Personen gesprochen, wobei die jeweiligen Akteure durch ethnische oder familiäre Beziehungen charakterisiert werden. Im Allgemeinen zeigt die thematische Struktur der Berichterstattung über Roma, dass sie mehrheitlich im Zusammenhang mit Kriminalität und sozialen Konflikten erscheinen, ein Problem der öffentlichen Ordnung sind, und als ein kollektiver Akteur auf der Grundlage biologisch fundierter Zusammengehörigkeit thematisiert werden. Berichte über kulturelle Andersartigkeit, Unangepasstheit oder Lebensgewohnheiten lassen das Verhalten der Roma meist zusätzlich als Störung und Bedrohung der Normen der Mehrheitsgesellschaften erscheinen. In all diesen Fällen wird das Grundprinzip der Stigmatisierung wiederholt, indem die Zuschreibung prinzipieller Andersartigkeit und Kriminalisierung zur Konstruktion einer generellen Bedrohlichkeit durch die ‚Zigeuner‘ führt. Denn in erster Linie ist es das so geprägte und in allen europäischen Gesellschaften vorfindbare Zigeunerbild, das zu der anhaltenden Diskriminierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung der Roma beiträgt.
Ein Beitrag von Norbert Fori
Weitere Quellen im Internet:
Radiointerview mit Simone Tries (Rom e.V): „Roma – Leben am Rand der Gesellschaft„
GoogleNews-Suchergebnisse zum Thema „Bettelverbot Steiermark„, das vor allem Roma betrifft
GoogleNews-Suchergebnisse zum Thema „roma discrimination europe“