Sozial tot oder lebendig?

Die Folgen des transatlantischen Sklav_innenhandels sind nicht zu unterschätzen: Weil dieser Sklav_innenhandel mit Afrikaner_innen zunehmend mit Rassismus begründet wurde, rief er bis heute andauernde Herrschaftsstrukturen hervor. Diese schlagen sich für Schwarze häufig in einer Einschränkung ihrer Lebenschancen, schlechterer Bildung und Gesundheit sowie hohen Gefängnis-, Armuts- und frühen Sterberaten nieder (Brown 2009). Dennoch sind die heutigen rassistischen Herrschaftsverhältnisse anders als sklavische. Orlando Patterson versucht letzteres mit seiner Theorie des Sozialen Tods zu erklären. Für Patterson bedeutet Sklaverei die andauernde gewaltsame Beherrschung entwurzelter und generell entwürdigter Menschen (Patterson 1982: 13), die er damit als sozial tot charakterisiert. Aufgrund ihrer Entwurzelung und Beherrschung müssen sie sich losgelöst von ihrer Geschichte ein neues Leben aufbauen (Patterson 1982: 5). Soziale Beziehungen unter den Sklav_innen gibt es zwar, ihre Anerkennung liegt aber in der Macht der Beherrschenden. Ob ein_e Sklav_in also verheiratet ist oder ein Kind hat, hängt von der Entscheidung der Herr_innen ab (Patterson 1982: 6). Den Sklav_innen wird so das Menschsein aberkannt, indem sie von ihren Geburtsrechten innerhalb ihrer sozialen Gruppe entfremdet werden (Patterson 1982: 5). Ihr Existenzrecht begründet sich somit durch die Existenz ihrer_s Master_in_s (Patterson 1982: 8 ) und um dieses zu sichern, müssen Sklav_innen ihren Herr_innen dienen. Hierin liegt für Patterson der Grund, warum Sklav_innen sich diesem Herrschaftsverhältnis unterwerfen. Die Abhängigkeit von der_m Master_in und die damit verbundene Entmenschlichung wird durch symbolische Instrumente wie Namensgebung, Kleidung, Sprache usw. gesichert.

Patterson spricht den sozial toten Sklav_innen mit dieser sehr absoluten Theorie jegliche Subjektivierungsmöglichkeiten ab. Sklav_innen werden von ihren Herr_innen zu Objekten degradiert, sie werden passiv und damit zu nicht-handlungsfähigen Opfern. Diese Überbetonung der Herrschaftsstruktur ist für die Beschreibung jedes Herrschaftsverhältnisses fatal. Gerade im atlantischen Sklav_innenhandel ist der Einfluss der Sklav_innen auf die Kultur in den USA, der Karibik oder Brasilien nicht zu übersehen.

Obwohl Sklav_innen durch die Entwurzelung keine kulturellen oder religiösen Institutionen über den Atlantik transportieren konnten, haben sie sehr wohl ihren Hintergrund erhalten (Brown 2009). Das ist in vielerlei Hinsicht nachweisbar, wird aber besonders in Bezug auf Musik deutlich. Dies gilt sowohl für die Musik der Karibik als auch u.A. für  Jazz und Blues, die beide wichtige Grundlagen für Rock- und Popmusik darstellen. Aber nicht nur sind Rhythmus und Klang heutiger Musik stark von früheren Sklav_innen beeinflusst, sondern auch die Musikinstrumente. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das in Brasilien für Capoeira grundlegende Instrument Berimbau.

Darüber hinaus wurden auch andere kulturelle Bereiche wie Tanz, z.B. Lindy Hop in den USA, oder Religion, bspw. Candomblé in Brasilien, von Sklav_innen beeinflusst.

Außerdem zeugen Aufstände wie die Haitianische Revolution und passiver Widerstand,  z.B. die jamaikanische „Weihnachtsrebellion“ von Auflehnung und direktem Widerstand gegenüber den Herr_innen.

Damit waren Sklav_innen trotz der extrem entwürdigenden Herrschaftsstrukturen nicht sozial tot und absolut entmenschlicht, sondern konnten durch das Ausloten und Erkämpfen von Handlungsspielräumen ihre eigene Existenz begründen. Sklav_innen waren also nicht nur Objekte, sondern auch handelnde Subjekte, die die Kultur der versklavenden Gesellschaften maßgeblich beeinflussten. Auch aufgrund der kulturellen Folgen des transatlantischen Sklav_innenhandels bleibt dieser bis heute relevant.

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