Vor ungefähr einem halben Jahr – Anfang Dezember – habe ich den Antrag für das Projekttutorium bei der Studienabteilung der Humboldt Universität eingereicht. Ein paar Wochen später habe ich die erfreuliche Nachricht bekommen, dass mein Antrag genehmigt wurde und dass ich ab dem Sommersemester 2011 für zwei Semester eine eigene Lehrveranstaltung zum Thema Menschenhandel anbieten werde. Hier nun der Antrag und die ursprüngliche Konzeption des Ganzen:
Ausgangspunkt des Projekttutoriums ist die zunehmende Aufmerksamkeit, die in den letzten Jahren dem Phänomen Menschenhandel als “globalem Problem” gewidmet wird. Vor allem seit der im Jahre 2000 verabschiedeten “UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität”, die auch das “Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen-und Kinderhandels” enthält, ist der “Kampf gegen Menschenhandel” zu einem wichtigen Anliegen unterschiedlicher Akteure auf nationaler und internationaler Ebene geworden (Kyle/Koslowski 2001; Morehouse 2009; Siddhart 2010). Der Europäischen Kommission zufolge fallen “weltweit […] 2,45 Millionen Menschen dem Menschenhandel in Zwangsarbeit zum Opfer. Weit über die Hälfte von ihnen sind Frauen und Mädchen, die zur Prostitution gezwungen oder als Dienstpersonal in Privathaushalten ausgebeutet werden”. JournalistInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen sprechen zunehmend von Menschenhandel als Form “moderner Sklaverei” (Bravo 2007; Siddhart, 2010). Dabei stehen vor allem zwei Formen im Mittelpunkt: (1) „Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung“ und (2) „Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeit“. Im ersten Fall wird begrifflich auch von „Zwangsprostitution“ und „Frauenhandel“ gesprochen und im zweiten Fall von „Zwangsarbeit“ und „Ausbeutung der Arbeit“ vor allem undokumentierter MigrantInnen. Beide Formen werden als Sklaverei bezeichnet.
Ungeachtet der großen Aufmerksamkeit, die dem “Menschenhandel” gewidmet wird, bleibt jedoch weiterhin unklar, welches Phänomen mit diesem Begriff beschrieben wird, wer als Opfer oder Täter zählt, welche seine Ursachen sind und welche Definition das Phänomen am besten beschreibt. Auffällig ist, dass Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Sklavenhandel oder Ausbeutung der Arbeit von verschiedenen Akteuren auf unterschiedliche Art und Weise definiert und beurteilt werden. Vor allem NGOs, aber auch Staaten und internationale Organisationen vertreten oft diametral entgegengesetzte Ansätze nicht nur hinsichtlich der Begriffsbestimmung von sondern auch der zu ergreifenden politischen Maßnahmen gegen Menschenhandel. Warum aber ist Menschenhandel definitorisch so schwer zu fassen? Warum ist die Auseinandersetzung über die zu ergreifenden politischen Maßnahmen so polarisiert? Welche Interessen, Konflikte und normativen Vorstellungen liegen der Debatte über Menschenhandel zugrunde? Auf welcher historischen Grundlage stützt sich der Diskurs von Menschenhandel als Sklaverei einerseits und Menschenhandel als sexuelle Ausbeutung andrerseits? Inwiefern ist Menschenhandel als Diskurs aufzufassen, der vom Umgang mit Ängsten und Problemen, die in anderen Bereichen angesiedelt sind – z.B. Migration, Sexualität, und Prostitution – beeinflusst und geprägt ist? Ziel des Projekttutoriums ist es, die Komplexität des Themas sowohl auf der Ebene des Phänomens als auch auf der Ebene der Diskurse zu untersuchen. Gegenstand der Analyse werden historische und zeitgenössische Definitionsversuche, ebenso wie Politiken gegen Menschenhandel, Zwangsarbeit und Zwangsprostitution sein. Eine Arbeitsdefinition von “Menschenhandel” wird dem Projekttutorium nicht zugrunde liegen. Vielmehr erscheint die Metapher von Menschenhandel als einem Rhizom, das die unterschiedlichsten Formen annehmen kann – ein facettenreicher dynamischer Prozess, dem weder durch die Perspektive einer bestimmten Fachdisziplin noch durch eindimensionale und vereinfachte Narrative oder durch die normativen Urteile von “gut” und “schlecht” Rechnung getragen werden kann, – für die Ziele der Projekttutoriums geeignet zu sein (Phaik Lin Goh 2009).
Die verbreitete Beschreibung von Menschenhandel als Sklaverei weist auf die Frage nach historischen Formen der Sklaverei und ihrer Begriffsbestimmung hin. Vor allem der atlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in den USA werden im Vordergrund stehen. Nicht nur die Praxis des Sklavenhandels und ihre ökonomische Dimension, sondern auch Rechtfertigungsargumente sollen untersucht werden. Die Frage nach der Vergleichbarkeit historischer Formen der Sklaverei steht zwar nicht im Zentrum der Fragestellung, jedoch kann eine historische Kenntnis des atlantischen Sklavenhandels einen kritischen Umgang mit dem zeitgenössischen Vergleich von Menschenhandel und Sklaverei ermöglichen (Bravo 2007; Deyle 2005; Meissner 2008; Schneider 2000).
Ein weiteres für das Projekttutorium relevantes Thema ist die sogenannte “Weisse Sklaverei”, im deutschen Sprachraum auch als „Mädchenhandel“ bekannt. Dieses Phänomen führte um 1900 zu grenzüberschreitenden Diskussionen, die mit heutigen Menschenhandelsdebatten durchaus vergleichbar sind: weisse Frauen würden in Europa und den USA entführt, um in anderen Ländern zur Prostitution gezwungen zu werden. HistorikerInnen haben jedoch auf den sozial konstruierten Charakter der “Weissen Sklaverei” hingewiesen. Es handelte sich dabei um eine Form “moralischer Panik”, deren Ziel die Einschränkung und Kontrolle weiblicher Sexualität und Mobilität war, welche vor allem durch restriktive Migrations-und Prostitutionsgesetze erreicht wurde (Chaumont/Machiels 2009; Doezema 2000; Donovan, 2006; Gorman, 2008; Jazbinsek 2002; Limoncelli 2010; Sabelus 2009).
In diesem Kontext sollen zwei “abolitionistische Bewegungen”, die im Kampf gegen eben genannte Formen der Sklaverei – der weissen Sklaverei und des atlantischen Sklavenhandels – entstanden sind, analysiert werden: Abolitionismus gegen Sklaverei und Abolitionismus gegen Prostitution.
Ein weiterer Schwerpunkt des Projekttutoriums liegt auf der historischen Entwicklung internationaler Abkommen gegen Sklaverei, Menschenhandel und Prostitution. Im Zeitraum von 1904 bis 2000 wurden insgesamt sechs Konventionen gegen Menschenhandel unterzeichnet, die als Vorläufer der jüngsten UN-Konvention gelten. Bezeichnend ist hier, dass in diesen Abkommen die Grenzen zwischen den Begriffen Sklaverei, Mädchenhandel und Prostitution verschwimmen, die Konvention von 1949 z.B. als Konvention gegen Menschenhandel aufgefasst wird, ihr jedoch das Prinzip der Illegalisierung und Abschaffung der Prostitution – nur der Prostitution – zugrunde liegt. Auch hier gilt es, Begriffe und normative Voraussetzungen herauszuarbeiten, ebenso wie Akteure (Staaten und NGOs), die sich für die Verabschiedung dieser Konventionen eingesetzt haben, und ihre Interessen im historischen Kontext zu analysieren (Leppänen 2007; Limoncelli 2010; Scarpa 2009; Welch 2009). Als Übergang zur jüngsten UN-Konvention wird im letzten Teil des ersten Semesters die zunehmende Bedeutung von Menschen-und Frauenhandel in den Medien ab den 1980er Jahren thematisiert. Vor allem Migrationsbewegungen und Menschenhandel aus Ost-nach Westeuropa und den USA, jedoch auch aus den Balkangebieten und Afrika sollen hier untersucht werden (Becker 1956; Renscher 1987; Schmidt 1985; Tübinger Projektgruppe Frauenhandel 1989).
Im zweiten Teil des Projekttutoriums geht es hauptsächlich um den Umgang mit Menschenhandel seit der Verabschiedung der UN-Konvention und des Zusatzprotokolls gegen Menschenhandel im Jahre 2000. Zur Erweiterung der Perspektive auf die rechtlichen Grundlagen sollen auch zwei weitere Abkommen in den Blick genommen werden: das im Rahmen derselben Konvention verabschiedete “Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See-und Luftweg” und die im Jahre 2003 in Kraft getretene “Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen” – letztere wurde bisher jedoch von keinem einzigen westlichen oder europäischen Staat ratifiziert. Eine kombinierte Analyse diese Konventionen, zusammen mit soziologischen und ethnographischen Studien über die zwei für das Projekttutorium relevanten Formen des Menschenhandels – Zwangsprostitution und Ausbeutung der Arbeit, insbesondere der Arbeit undokumentierter MigrantInnen – soll auch hier den Blick auf die aktuelle Diskussion über Menschenhandel erweitern. Allgemein gesehen werden somit die Auswirkungen von und der Umgang mit internationalen Normen auf nationaler und lokaler Ebene ins Zentrum der Untersuchung gestellt. Insbesondere wird es um das Zusammenspiel zwischen internationalen Normen und Konventionen gegen Menschenhandel einerseits und ihre Umsetzung in nationale Prostitutions-und Migrationspolitiken andererseits gehen (Agustin 2007; Berman 2010; Chapkis 2003; Cholewinski 2009; Cohen, R. 2006; Dauvergne 2008; Ditmore 2003;Doezema 1998; Kara 2010; Kathy 2005; Kempadoo 2005; Parrenas 2010; Raymond 2002; Weitzer 2007; Zhen 2010).
Ferner wird in diesem Kontext die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Konsumgesellschaft und Menschenhandel behandelt werden. Inwiefern begünstigt das westliche Konsumverhalten, das vor allem auf den Konsum von Billigwaren fußt, Menschenhandel und die Ausbeutung von “billigen” Arbeitskräften, vor allem undokumentierten MigrantInnen? Inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen sog. „Flatrate-Bordellen“ und Menschenhandel? In diesem Zusammenhang wird zuletzt die die Frage nach einem Recht auf Migration und den Rechten von undokumentierten MigrantInnen aus der Sicht der politischen Philosophie näher betrachtet, um normative Annahmen und Theorien nicht nur hinsichtlich der Prostitution explizit zu thematisierensondern auch hinsichtlich der Migration (Bales 2009; Carens 2008; Dauvergne 2008; Seglow 2005).
Zusammenfassend liegt das Erkenntnisinteresse dieses Projekttutorium in der Auffächerung der Diskurse und Phänomene, die mit dem Begriff des Menschenhandels in Zusammenhang gebracht werden. Dieses Ziel wird einerseits anhand der historischen Untersuchung des atlantischen Sklavenhandels, der „Weissen Sklaverei“, der Geschichte relevanter internationaler Abkommen und dem erneuten Aufkommen des Menschenhandelsdiskurses seit den 1980er Jahren erreicht. Andererseits wird vor allem die zeitgenössische Debatte vor dem Hintergrund von Prostitutions-und Migrationspolitiken, ebenso wie anhand soziologischer und ethnologischer Forschungen untersucht. Ziel ist es, dass die Antragstellende und die TeilnehmerInnen ein Bewusstsein für die Komplexität von „Menschenhandel“ in der gemeinsamen Diskussion entwickeln.
Der vollständige Antrag kann hier heruntergeladen werden.