menschenhandel heute.

kritische perspektiven auf die bekämpfung von menschenhandel

„Wir wissen immer noch sehr wenig.“ – 10 Jahre Prostitutionsgesetz (ProstG) in Deutschland

ProstG – Das deutsche Prostitutionsgesetz

Am 19. Oktober 2012 lud die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zu einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „10 Jahre Prostitutionsgesetz“ ins Jakob-Kaiser-Haus ein.

Der folgende Text ist eine Mitschrift dieser Veranstaltung. Alle Zitate sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, von den Vortragenden abgesegnet worden. Der Beitrag einer im Publikum anwesenden Sexarbeiterin konnte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung leider nicht berücksichtigt werden, da ihre angekündigten Anmerkungen noch nicht eingegangen waren. Ihr Beitrag wird ggf. nachträglich hinzugefügt.

Dieser Text ist kein journalistischer Artikel, sondern dient vorrangig einer dokumentarischen Funktion, um interessierten Personen, die der Veranstaltung nicht beiwohnen konnten, einen Überblick über die angesprochenen Themen zu bieten. Der Text stellt keinen Kommentar des Autors dar. Davon ausgeschlossen sind einige wenige Textstellen in kursiv, die Einwürfe des Autors darstellen.

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In ihrer Begrüßungsrede räumte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ekin Deligöz ein, dass die Bilanz des von den rot-grünen Frauenpolitikerinnen entwickelten Prostitutionsgesetzes (im folgenden ProstG) „zugegebenermaßen nur zum Teil positiv“ ausfiele. Sie erinnerte die ca. 50 TeilnehmerInnen der Veranstaltung an die damaligen Zielsetzungen, mit der gesellschaftlichen Doppelmoral aufzuräumen, die Sexarbeit zu enttabuisieren und diese nicht weiter als sittenwidrig unter Strafe zu stellen.

Deligöz zitierte aus der damaligen Gesetzesbegründung, dass bis dahin „das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ als Maßstab für die guten Sitten galt, nach einer vom Reichsgericht 1901 entwickelten Formel (RGZ 48, S. 114, 124), und dass vor 2002 die Prostitution mit der Betätigung als Berufsverbrecher gleichgestellt wurde nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1965 (BVerwGE 22, S. 286, 289).

„Wir wissen immer noch sehr wenig“, fuhr Deligöz fort, und gab an, dass Schätzungen zufolge ca. 400.000 Prostituierte in Deutschland arbeiteten, von denen 80% Frauen wären.

(Kommentar) Um dieser Zahl gleich entgegenzutreten, sei hier erwähnt, dass Podiumsgast Elfriede Steffan (SPI Forschung gGmbH) sie hierfür später zu Recht kritisierte. Steffan erläuterte, dass die Skandalisation der Prostitution oft auch die Zahlen beträfe. Die Schätzung von 400.000 Prostituierten stamme vom Ende der 1980er Jahre, sei wissenschaftlich nicht basiert, und werde trotzdem seit nunmehr über zwei Jahrzehnten wiederholt zitiert. Einer auch bereits veralteten Schätzung aus den 90er Jahren zufolge, gäbe es ca. 60 bis 200.000 Prostituierte in Deutschland. Steffan fügte an, „Versachlichung heißt auch zuzugeben, was wir nicht wissen. Und neue Zahlen gibt es auch nicht.“

Deligöz beklagte die häufige Vermischung der Themen Menschenhandel und Prostitution. „Das Gesetz war nie dazu gedacht, den Menschenhandel zu bekämpfen. Beim Thema Menschenhandel sollten wir keine Kompromisse machen. Es geht um die Lage der freiwillig als Prostituierte arbeitenden.“ Das ProstG habe zum Ziel, ein gesellschaftliches Umdenken und die Entkriminalisierung der Sexarbeit zu erreichen, und Prostituierten einen Zugang zu den Sozialsystemen zu ermöglichen. Aus dem Bericht des Bundesministeriums für  Familien, Senioren, Frauen und Jugend zitierend, wies Deligöz darauf hin, dass bisher nur mehr 1% der Prostituierten ein Vertragsverhältnis eingegangen sein. Die Umsetzung des ProstGs sei noch bruchstückhaft, was vor allem daran läge, dass Unklarheiten dies be- oder verhindern würden. Daher seien viele Punkte noch nicht erreicht. Deligöz schloss mit der Fragestellung ab, welche Ziele in der Zukunft zu erreichen seien. Auf ihre abschließenden Grußworte, dass sie sich über die rege Teilnahme freue, reagierte eine neben mir sitzende Sexarbeiterin mit der sarkastischen Bemerkung, „Ich freue mich, dass keine Sexarbeiterin auf dem Podium sitzt.“

(Kommentar) Zur Deligöz‘ Wortwahl der „freiwillig Prostituierten“, sei hier Cheryl Overs, Gründerin des Globalen Netzwerk für SexarbeiterInnen Projekte (NSWP) zitiert.

“Es wäre absurd,  wenn  man den Worten ‚Braut‘ oder ‚homosexueller Mann‘ die Adjektive ‚bereitwillige‘ oder ‚einwilligender‘ voranstellte. Können Sie sich Berichte vorstellen, die angäben, dass Kondome an ‚einwilligende Homosexuelle‘ verteilt werden sollten? Könnte es etwas absurderes, schwulenfeindlicheres oder stigmatisierenderes geben? Können Sie sich etwas absurderes vorstellen als Kate Middleton als ‚bereitwillige Braut‘ zu beschreiben? Der Zusatz dieser Worte bringt denen, die im Verlauf ihrer Ehe oder ihrer Homosexualität vergewaltigt, geschlagen oder gefangen gehalten wurden, kein Mehr an Gerechtigkeit, und niemand würde dies behaupten. Noch würde irgendjemand behaupten, dass die Bezeichnungen ‚bereitwillige Bräute‘ oder ‚einwilligende Homosexuelle‘ abzulehnen gleichbedeutend wäre mit der Verleugnung, dass solche Dinge passieren.“

10 Jahre Prostitutionsgesetz – Resümee und Ausblick

Nach Deligöz moderierte danach Monika Lazar (MdB), Sprecherin für Frauenpolitik bei den Grünen, die Diskussion. Neben ihr hatten die bereits erwähnte Elfriede Steffan sowie Claudia Fischer-Czech vom Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter (BUFAS) Vorstand und Holger Rettig vom Unternehmerverband Erotik Gewerbe Deutschland (UEGD) Platz genommen.

Frau Lazar fragte Frau Steffan, wie sie die Wirkung des ProstGs für SexarbeiterInnen und Klienten einschätze und ob Sexarbeit in Deutschland normalisiert sei. Steffan gab an, dass sie eine vornehmlich gesundheitspolitische Perspektive einnehme und eine Studie mit über 1.000 Prostituierten in Europa durchgeführt zu haben. Ihren Erkenntnissen zufolge seien migrantische Prostituierte inzwischen eher geneigt, an ihnen verübte Straftaten anzuzeigen, und die Polizei sei auch sensibler geworden. Bei Prostituierten herrsche nach wie vor Unsicherheit bei Steuerregelungen, z.B. bei der Frage ob sie sich mit den 6 Euro am Sexsteuer-Automat bereits aller Steuerpflichten entledigten oder nicht. Steffan beschrieb dann die Lage in Köln, wo es einen Sperrbezirk gäbe und Prostituierte daher nur noch nachts in einem dunklen Waldgebiet arbeiteten, „wo es weder eine Bushaltestelle noch sonst etwas gibt“ und sie in großer Gefahr seien, um die sich aber niemand sorge. Zum Thema Freier enthielt sich Frau Steffan. Diese zu vertreten sei nicht ihre Aufgabe.

Die nächste Frage richtete Lazar an Frau Fischer-Czech. „Sind SexarbeiterInnen zufrieden mit dem Gesetz?“ Diese entgegnete, dass es da bessere Experten als sie gäbe, und dass SexarbeiterInnen hier auch auf dem Podium hätten sitzen sollen. Zwischen 2004 und 2005 hätte es im Rahmen der Evaluation des ProstG eine Umfrage unter ca. 300 SexarbeiterInnen gegeben und damals herrschte noch viel Hoffnung, dass das ProstG etwas verändern würde. Im Prinzip sei nur die Sittenwidrigkeit des (Dienstleistungs-)Vertrags abgeschafft worden, aber die Hoffnung bestand, dass dies eine Ausstrahlungswirkung auf andere Rechtsbereiche haben und zu einem Umdenken führen würde.

Mit dem Recht auf sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse wüssten sowohl SexarbeiterInnen als auch Bordellbetreiber nicht viel anzufangen. Zudem konnten sich SexarbeiterInnen auch vorher schon freiwillig rentenversichern und sie verstünden sich ohnehin eher als selbständig. Ebenso bestehe seit 2009 eine Krankenversicherungspflicht in Deutschland, sodass auch hier keine nachhaltige Verbesserung durch das ProstG mehr zu verzeichnen sei.

Steuerticketautomat in Bonn für Prostituierte

Die Pauschalsteuer bezeichnete Fischer-Czech als Schlechterstellung von Prostituierten. „Keine Selbständige muss eine Summe auf ein fiktives Honorar zahlen.“ Die offenbare Fixierung auf Steuereinnahmen durch die Sexarbeit kommentierte sie mit den Worten, dass es wohl kaum SexarbeiterInnen gewesen wären, die auf den Schweizer CDs mit Steuersündern verzeichnet seien. Sperrgebietsverordnungen erteilte sie ebenso eine Absage. Sie beschränkten die Räume auf wenige und oft gefährliche Gebiete. Dortmund hätte so bereits die sichtbare Prostitution abgeschafft, während in Hamburg das Kontaktaufnahmeverbot herrsche, das durch hohe Geld- und sogar Gefängnisstrafen durchgesetzt werde.

Fischer-Czech fuhr fort, dass die Wirkung und Ausstrahlung des ProstGs das eine wäre; die Normalisierung und Eingliederung der Sexarbeit in das wirtschaftliche System sei das andere und wichtigere. Bedeutend war im Zuge des ProstGs die Abschaffung des Straftatbestandes der „Förderung der Prostitution“. Dies hat zumindest ermöglicht, dass gute Arbeitsbedingungen geschaffen werden könnten, ohne sich strafbar zu machen.

„Es sollte unaufgeregt über die Arbeitsbedingungen gesprochen werden. Einige (Bordell-) Betreiber haben die Räumlichkeiten verbessert, aber grundsätzlich kann man nicht sagen, dass sich flächendeckend etwas verbessert hätte.“
– Claudia Fischer-Czech

Als nächstes richtete Frau Lazar das Wort an Herrn Rettig und bat ihn, sich zum Gesetzesvorschlag des Unternehmerverbandes Erotikgewerbe Deutschland zur Erlaubnis des Betriebes von Prostitutionsstätten zu äußern. Zu Beginn führte dieser an, dass in der Vergangenheit auch Verträge zwischen Hausbesitzern und Bordellbesitzern als sittenwidrig gegolten hätten und dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen Besitzern negativ ausgelegt werden konnte, da sie so dem Verbleib in der Prostitution Vorschub leisteten. Das ProstG hätte dies geändert. „Ein ‚Arbeitgeber‘ hat noch mehr Gesetze zu beachten als ein ‚Arbeitnehmer‘.“ Der Wille sich rechtskonform zu verhalten sei bei Betreibern oft vorhanden, aber durch die Stigmatisierung würden sie bei Behörden oft nicht gleichberechtigt behandelt. Es herrsche oft Rechtsunsicherheit, weswegen ein eigener Verband gegründet worden sei, sowohl um für bessere Kenntnisse der Rechtslage zu sorgen, als auch um größere Transparenz zu gewährleisten. Dieser Verband sei unterdessen angewachsen und ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert, „anders als die mit Steuergeldern finanzierten Beratungsstellen, die Sexarbeiter über ihre Rechte aufklären und bei Problemen helfen.“ Diese begrüße der UEGD ausdrücklich.

Rettig beschrieb außerdem die Entwicklung der Branche aus Sicht der Betreiber. Der Anteil der ost-europäischen SexarbeiterInnen werde anwachsen, prognostizierte er. Die sogenannten Model-Apartments kritisierte er. In „einfachsten Einrichtungen, ohne Beachtung von Hygiene oder Sicherheit“ werde hier versucht, „das schnelle Geld zu verdienen“. Er kritisierte auch, dass Model-Apartments nicht nach dem Gewerberecht angemeldet würden. (Für seine Einschätzung erntete Rettig einen lauten Buh-Ruf.) Wenn Bordelle per Gewerberecht angemeldet wären, wären sie genauso zu kontrollieren und zu regulieren wie andere Betriebe. Wenn man für die Prostitutionsstätten jedoch eine Erlaubnispflicht, sprich Konzessionierung einführte, so wie sie für jede Gaststätte zu beantragen ist, dann hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit, sowohl an die Betriebsführung bestimmte persönliche Anforderungen zu stellen, als auch für die Prostitutionsstätte selbst bestimmte Kriterien zu definieren, wie beispielsweise Hygienevorschriften, Sicherheitseinrichtungen und ähnliches.

Der Vorschlag Prostitutionsstätten einer Erlaubnisprozedur zu unterziehen ist mittlerweile nicht nur Teil der Bundesratsentschließung von 2011, sondern wird auch von der Innenministerkonferenz unterstützt. Die Frauenministerkonferenz möchte ebenfalls als Ergänzung zum Prostitutionsgesetz eine Rechtsgrundlage zur Regulierung von Bordellen und bordellähnlichen Betrieben schaffen, die am öffentlichen Wirtschaftsrecht orientiert sein soll. Zur Erlaubnispflicht habe der Verband einen Gesetzesvorschlag entwickelt und letztes Jahr an Politik und Ministerien verteilt, um die Diskussion anzuregen. Er wiese Parallelen zu den Erlaubnistatbeständen des Gaststättengesetzes aus, weil diese Materie schon häufig in der juristischen Textur besprochen wurde, wobei spezielle Ausführungsbestimmungen und Ausnahmeregelungen noch zu definieren sind. Das ist auch dadurch begründet, dass, wie im Gaststättengesetz, bestimmte Kompetenzen der Länderhoheit unterliegen. Rettig schloss mit den Worten, dass nicht noch einmal zehn Jahre gewartet werden sollte bis zur nächsten Einigung.

Frau Lazar bat Frau Fischer-Czech auf Herrn Rettigs Einlassungen zu reagieren. Ihrer eigenen Forderung nach Unaufgeregtheit Folge leistend, erklärte sie, dass Model-Wohnungen eine der besten Optionen für Prostituierte wären, da Frauen dort unabhängig arbeiten könnten. Es bliebe zu klären, ab welcher Größe sie als Betriebsstätten einzustufen seien. Ab drei gälte es z.B. in Dortmund als Betriebsstätte, mit ein oder zwei dort Arbeitenden seien sie hingegen nicht anzuzeigen. Fischer-Czech stellte die Frage in den Raum, welches Heil die Einordnung von Prostitutionsstätten als erlaubnispflichtiges versus anzeigepflichtiges Gewerbe bringen könnte. Strohmänner und –frauen gäbe es bei Bedarf immer. Ob das Gesetz Transparenz schaffe, sei fragwürdig. Rettigs Bedenken zu hygienischen Standards und Arbeitsbedingungen teile sie zwar, diese lägen aber nicht nur an der jeweiligen Ausstattung eine Betriebsstätte (oder Model-Wohnung), sondern auch an den Konditionen der Betreiber. „Große, tolle, saubere Häuser haben durchaus trotzdem schlechte Arbeitsbedingungen.“ Es sei eine breitere Diskussion nötig über das, was gute Arbeitsbedingungen darstellten.

Nach dieser abschließenden Aussage bat Frau Lazar um Reaktionen aus dem Publikum.

Volker Beck, menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen, sagte, er sähe eine Notwendigkeit zur weiteren legalen Ausgestaltung der Prostitution. Es sei angebracht, dazu das Gewerberecht zu nutzen, denn nun wieder ein Extragesetz schaffen zu wollen, würde der Prostitution nur wieder die ungeliebte Sonderrolle zuordnen. Es sei notwendig, eine Regelung im Gewerberecht zu finden, um die Großbordelle kontrollieren zu können. Dabei sei jedoch Vorsicht geboten, keine kontraproduktiven Maßnahmen zu ergreifen.

„Es geht ja um die Frauen und Männer, die in dem Gewerbe arbeiten, und nicht um die Bordellbetreiber.“ – Volker Beck

Er plädiere für eine Anzeigepflicht für Wohnungen ohne Auflagen, doch wie Frau Fischer-Czech frage auch er sich, wo die Grenze anzulegen sei. Model-Wohnungen sollten möglich sein, damit Prostituierte selbstorganisiert arbeiten und Abgaben an Betreiber sparen könnten. Das könnte u.U. jedoch auch Zuhältern Vorschub leisten.

Hanna Hofmann, transsexuelle Prostituierte aus Leipzig, vertrat ebenfalls die Meinung, dass Wohnungsbordelle auch weiter existieren sollten. Die 100-180 Euro Gebühren in einem Großbordell, die „müssen Sie erstmal zusammenvögeln.“ Wer solche Fixkosten zu bestreiten hätte, müsste mindestens das Doppelte an Umsatz erwirtschaften, um nicht in finanzielle Schwierigkeiten zugeraten. Es gäbe viele Frauen, die das nicht schafften oder die auch nicht so viel oder nur in Teilzeit arbeiten wollten. Aufgrund der Kosten könnten Sie jedoch nicht so mieten wie sie wollten, sondern nur wochenweise. Das wiederum führe zu langen Arbeitszeiten und SexarbeiterInnen müssten dann oft mit betrunkenen Kunden umgehen, „und das kann’s nicht sein“.

Großbordelle müsse man im Rahmen der Legalisierung akzeptieren, aber man sollte die Probleme, die dort auftreten, auch ehrlich ansprechen dürfen. „Was die hygienischen Verhältnisse anbetrifft, die Herr Rettig bei Wohnungsbordellen kritisiert hat, bin ich anderer Ansicht. Es gibt sehr wohl auch Betreiber, die Frauen in Großbordellen nötigen, Oralverkehr und teilweise sogar Geschlechtsverkehr ohne Gummi zu machen. Daher ist sein Einwand für mich irrelevant.“ Der Konflikt zwischen frauengeführten Wohnungs- und männergeführten Großbordellen sei ein Mangel an Selbstbestimmung in letzteren. Das Argument, dass es für ausländische SexarbeiterInnen im Großbordell bequemer wäre wegen des Rundum-Services sei auch nicht für stichhaltig. Natürlich könne man auch in Wohnungsbordellen auf Termin arbeiten.

Roter Schirm – Das Symbol für Solidarität mit SexarbeiterInnen

Nach Ansicht von Stephanie Klee, Sexarbeiterin und Mitgründerin des Bundesverbandes für sexuelle Dienstleistungen, sei das ProstG, von heute aus betrachtet, ein Fehler gewesen, da es die Gesellschaft und die Behörden nicht mitgenommen habe. 10 Jahre lang sei es versäumt worden, die Gesellschaft, die Prostituierten und die Bordellbesitzer wirklich zu informieren und zu „empowern“. Es sei auch 10 Jahre lang nicht geschafft worden, das ProstG auf die verschiedenen Gesetze herunterzudeklinieren (Gewerbe-, Bau-, Ausländer-, Steuerrecht etc.), und jetzt ein Bordellgesetz zu kreieren, was dann wieder ein Spezialgesetz wäre, würde bedeuten, den fünften vor dem ersten Schritt zu tun.

„Wir müssen viel mehr in die Basis zurück. Wir dürfen uns nicht scheuen mit Sexarbeitern, Bordellbesitzern und Klienten zu sprechen. Ein partizipatorischer Ansatz ist nötig und ein gesellschaftliches positives Klima, um die nötigen Umstände zu diskutieren. Es ist unwürdig für ein Land wie Deutschland, sich nur darum zu kümmern, Steuern einzunehmen und Sexarbeiterinnen zu kontrollieren.“
– Stephanie Klee

Als nächstes berichtete Wiltrud Schenk vom Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung, dass zu ihr Frauen kämen, die sagten, dass sie nicht mehr genügend verdienten. Diese bräuchten zusätzlich Hartz IV. Verträge wollten sie nicht. Es gäbe immer mehr Frauen, die zu ihrem Beruf ständen und sich als Sexarbeiterinnen krankenversichern würden. Früher hätten diese über ihre wahre Tätigkeit viel mehr lügen müssen und die Krankenkassen hätten dann Zahlungen mit der Begründung verweigert, dass das Versicherungsverhältnis aufgrund dieses Betrugs nichtig gewesen sei. Dass sich dieser Zustand geändert hat, schätzte sie als einen Erfolg des ProstG ein.

Herr Rettig schaltete sich nochmals ein und gab an, dass auch kleine Wohnungs-Betreiberinnen unter den Mitgliedern im Unternehmerverband Erotik Gewerbe Deutschland seien. Großbordelle wären insbesondere für Sexarbeiter auf der Durchreise attraktiv, da dort alles für sie bereitgestellt würde.

Zum Thema zusätzlicher Kontrollen fügte Frau Fischer-Czech an, sie kenne keine Betriebe, die so oft besucht und kontrolliert würden wie Prostitutionsstätten, und fragte, welche Kontrollen denn nun noch eingeführt werden sollten. Die Behörden seien auf dem falschen Pferd. Es ginge mitnichten um Themen wie sichere Arbeitsstätten und Brandschutz und deren Kontrolle durch die Gewerbeämter, sondern darum, der Polizei (noch) mehr Ermächtigungen zu geben. Sie bestätigte Herrn Rettig in dem einen Punkt, dass viele Frauen gar nicht unternehmerisch tätig sein wollten. In den Niederlanden habe die stärkere Regulierung dazu geführt, fuhr sie fort, dass es dort nun weniger Arbeitsmöglichkeiten gäbe. Sie spräche sich daher dafür aus, den Kontrollwillen zu bremsen. Eine Regulierung im Sinne von Qualitätsstandards könne es schon geben, doch zu welchem Preis, das sei dringend zu klären.

Frau Steffan fügte hinzu, dass 10 Jahre auch wirklich keine so lange Zeit für ein Gesetz seien. Umfragen in den 90er Jahren zufolge waren damals 40% versichert. Heute sei die Quote höher, was als positiv zu werten sei. An Herrn Beck richtete sie die Frage, wie er zu Sperrgebietszonen stünde und mahnte an, dass die Prävention von Gewalt im Straßenstrich sehr wichtig sei.

Herr Beck berichtete von einem Anbahnungsgebiet in Köln, in dem positiv interveniert wurde. Es hatte dort einen sehr gefährlichen Strassenstrich gegeben, der nun umgesiedelt worden sei, und wo die Polizei nur eine Schutzfunktion ausübe.

„Die Sperrgebietszonenregelung würde ich am liebsten streichen. Das haben die Grünen auch vorgeschlagen. Es wurde aber von der SPD blockiert. Bei manchen herrscht da die Fantasievorstellung, dass dann Sodom und Gomorrha die Folge wäre.“ – Volker Beck

Tatsächlich würden Sperrgebiete nur dazu führen, dass Prostitution entweder in der Illegalität oder in unsicheren Stadtrandlagen stattfände. Das verschlechtere die Lebenssituation von Prostituierten zusätzlich. Beck zufolge sei die Ausgestaltung des ProstGs auch eine kommunale Verantwortung, d.h. die von Polizei und Ordnungshütern. Die Gesellschaft kümmere sich häufig einfach nicht um dieses Thema, welches auch bei der Wählerschaft unpopulär sei. Von Kunden, so Beck weiter, sei da auch wenig hilfreiches zu erwarten. „Wenn wir nichts anbieten im Sinne einer positiven Ausgestaltung, dann verlieren wir gegen Alice Schwarzer und die CDU-Frauen. Eine Kriminalisierung der Freier ist eine perfide Logik, die aber in der Bevölkerung auf eine gewisse Art und Weise ankommt.“ Im Realfall führe dies aber nur dazu, dass SexarbeiterInnen weiter an den Rand und in gefährliche Situationen gedrängt würden.

„Die schwedische Lösung in Deutschland wäre eine Katastrophe.“ – Volker Beck

Auf die Frage, was die anderen Parteien in der Schublade hätten, antwortete Beck, dass Alice Schwarzer das Menschenhandelsthema ausnutzen würde und damit bei Konservativen gut ankäme. Obwohl in dieser Legislaturperiode keine Gesetzesänderung mehr zu erwarten sei, könnte die Kriminalisierung der Freier leicht zum Wahlkampfthema werden.

— Pause —

Hiermit ging es in die Pause, in der die Teilnehmer Gelegenheit hatten, sich die Ausstellung „Projekt: Nachbarschaft und Prostitution“ anzusehen. Auf großen Plakaten zeigte diese Porträts von 30 Bürgerinnen und Bürger rund um die Kurfürstenstraße, und die Kernpunkte ihrer Kritik und ihrer Visionen zum Thema Straßen-Prostitution.

— Pause —

Perspektiven aus der Praxis

Danach eröffnete Volker Beck als Moderator die zweite Diskussionsrunde. Neben ihm nahmen Platz Claudia Zimmermann-Schwartz, Abteilungsleiterin des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, Diplom-Soziologin Christiane Howe vom Zentrum Technik und Gesellschaft an der Technischen Universität Berlin, und Dr. Sibyll Klotz, Bezirksstadträtin für Gesundheit, Soziales, und Stadtentwicklung.

Frau Zimmermann-Schwartz begann mit einem Umriss ihrer Tätigkeit in NRW, wo sie den „Runden Tisch Prostitution“ moderiere, der zum Ziele habe, die Umsetzung des ProstGs voranzubringen und Handlungskonzepte für notwendige landesrechtliche Anpassungen zu erarbeiten. Dieser Runde Tisch war Bestandteil des Koalitionsvertrags 2010-2015 zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen in NRW und wurde im Dezember 2010 auf der Grundlage eines Kabinettsbeschlusses eingeführt.

Regelmäßige Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind nach ihren Ausführungen Vertreter des Finanzministeriums, des Wirtschaftsministeriums, des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr, des Ministeriums für Inneres und Kommunales, sowie des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales und des Justizministeriums. Vertreten seien auch die kommunalen Spitzenverbände, und zwar durch ihre Gleichstellungsbeauftragten sowie die Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten, von denen es in NRW über 360 gebe. Vertreter diverser Beratungsstellen seien auch Teil des Runden Tisches. Dazu gehörten Madonna e.V. in Bochum, die Prostituierte berate, die Mitternachtsmission in Dortmund, die Beratungen insbesondere für Opfer von Menschenhandel aber auch für Prostituierte anbiete, der Sozialdienst katholischer Frauen, der eine weitere Beratungsstelle für Prostituierte in Dortmund habe, und die Anlaufstelle Nachtfalke der AIDS-Hilfe Essen, die sich auf die Beratung männlicher Prostituierter spezialisiere.

Prostituierte selbst an den Tisch zu bekommen, sei ein wichtiges Anliegen gewesen. So sei es gelungen, eine Prostituierte als regelmäßige und sehr engagierte Vertreterin am Runden Tisch zu gewinnen. Dagegen sei die zweite Prostituierte, die das Sexworker Forum repräsentiere, nach wenigen Malen weggeblieben. Es sei ihr über Dritte übermittelt worden, dass sie sich am Runden Tisch nicht wohl gefühlt habe. Weshalb dem so gewesen sei, darauf ging Frau Zimmermann-Schwartz nicht ein, und auch nicht, ob weitere Versuche unternommen worden wären, um sich um eine größere Beteiligung von SexbarbeiterInnen zu bemühen. Außer den bereits genannten TeilnehmerInnen würden weitere ExpertInnen nach Bedarf eingeladen, wie z.B. aus der Wissenschaft oder den Kommunen.

Frau Zimmermann-Schwartz berichtete, dass sie sich zunächst schwer damit getan habe, sich mit der Einrichtung des Runden Tisches anzufreunden. Frauenpolitisch besonders durch den Kampf gegen Menschenhandel geprägt, sei es für sie zu Beginn etwas schwierig gewesen, sich mit Bordellbetreibern an einen Tisch zu setzen. Selbstverständlich seien aber zu wichtigen Themen Bordellbetreiber an den Runden Tisch als Experten geladen worden. Auch arbeite z.B. Herr Rettig in Arbeitsgruppen des Runden Tisches zu diversen Themen mit.

Eine der wichtigsten Fragen zu Beginn der Arbeitsaufnahme des Runden Tisches sei gewesen, inwieweit sich Menschenhandel von selbstbestimmter Prostitution unterscheiden lasse. Beides sei oft nicht leicht zu trennen oder trete im selben Kontext auf. Sie wandte sich gegen Klischees: „Das an die Heizung gekettete verschleppte  Menschenhandelsopfer“ sei nicht typisch, es gäbe es aber. Daher verwahrte sie sich gegen die Haltung so zu tun, als hätte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. NRW habe im Übrigen schon seit langem ein groß angelegtes Programm, um den Menschenhandel zu bekämpfen.

Auf der anderen Seite übten viele Frauen Prostitution sehr wohl selbstbestimmt aus. Auch könne sich der Charakter der Tätigkeit im Laufe der Zeit ändern. Es gäbe zum Beispiel auf der einen Seite Frauen, die in der Prostitution landeten, die dies zwar so nicht geplant hätten, nun aber akzeptierten. Auf der anderen Seite gäbe es Frauen, die zwar geplant hätten als Sexarbeiterinnen zu arbeiten, dann aber im Laufe der harten Tätigkeit in einem Missbrauchsverhältnis gelandet seien. Das wiederum wäre als Ausbeutung zu betrachten, wenn auch zu Beginn der Arbeit kein Akt des Menschenhandels gestanden habe.

„Es gibt nicht die Prostitution und es gibt auch nicht die Prostituierten.“
– Claudia Zimmermann-Schwartz

Die Arbeitsfelder und damit auch die Interessen seien oft völlig unterschiedlich und mitunter auch konträr. Insbesondere das Internet habe die Tätigkeit enorm verändert. Die hier in Diskussion stehende Konzessionierung von Bordellen betreffe nur ein ganz kleines Segment.

Ein Großteil der Prostitution finde im Verborgenen statt. Es fehle an verlässlichen Daten und an Wissen. Auch sie vertrat die Meinung von Frau Deligöz, dass nach wie vor viel zu wenige Informationen vorhanden seien. Dies gelte auch für die Menschen, die selbst in der Sexarbeit tätig seien. Viele Beiträge kämen jeweils ausschließlich aus der eigenen Perspektive. Die Unkenntnis über die Gegebenheiten in dem unübersichtlichen Bereich Prostitution hätten sicherlich auch zu dem Fehler im ProstG geführt, vorrangig auf eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung zu setzen.

Es gebe keine einfachen Lösungen: Dortmund, wo die Prostitution gewerberechtlich behandelt werde, sei immer das leuchtende Vorbild gewesen. „Nun ist es in Ungnade gefallen, weil es den Straßenstrich verboten hat.“ Auch löse eine Konzessionierung von Bordellen und bordellähnlichen Betreiben nicht alle Probleme. Es stellten sich neue Fragen, so etwa, wie kleine Wohnungsbordelle behandelt werden sollten. Die Kontroverse sei ja schon im ersten Teil der Veranstaltung deutlich geworden. Darüber hinaus seien solche Wohnungsbordelle oft aus bauordnungsrechtlichen Gründen illegal. „Aber da rührt niemand dran, viel wird geduldet, Lösungen müssen auch unter diesem Aspekt sehr behutsam sein!“

„Eine Gesellschaft muss sich entscheiden, wie sie mit der Prostitution umgehen will und dazu braucht sie eine wissensbasierte ethische Diskussion. Prostitution ist nach wie vor ein anrüchiges Thema.“ – Claudia Zimmermann-Schwartz

So wie schon der allgemeine gesellschaftliche Diskurs von Vorurteilen und Stigmatisierung geprägt sei, so sei diese Auseinandersetzung auch in einem frauenpolitischen Rahmen nicht einfach. Der auf Menschenhandel fokussierte Blick erschwere eine unaufgeregte Beschäftigung mit der Thematik. Auch dort werde schnell zu Formulierungen gegriffen wie ‚wenn die Frauen sich verkaufen‘. Es herrschten viele Ambivalenzen, auch bei den Befürwortern einer weiteren Regulierung selbstbestimmter Prostitution.

Von einem Gespräch mit einer Grünen-Abgeordneten berichtete Frau Zimmermann-Schwartz, dass diese sich zwar dafür ausgesprochen hätte, etwas zur Verbesserung der Lage von Prostituierten zu tun. Als sie sie dann fragte, wie sie es denn empfände, wenn ein grüner Kollege in ein Bordell gehen würde, antwortete diese, dass sie das dann jedoch nicht in Ordnung finden würde. Sie erzähle dies, um deutlich zu machen, dass es einer gründlichen Auseinandersetzung bedürfe. Es sei so einfach zu sagen, alle seien doch erwachsene, moderne Menschen und deswegen dürfte es doch kein Problem beim Thema Prostitution geben.

„Damit kommen wir nicht weiter. Prostitution berührt das Thema Sexualität und damit immer auch innerste ethische Maßstäbe.“ – Claudia Zimmermann-Schwartz

Der Trend (zurück) zur Kriminalisierung würde nicht nur von einer Alice Schwarzer vertreten. Auch die neue französische Frauenministerin befürworte diese Richtung. Sie schloss mit der Feststellung, dass eine Legalisierung von Bordellen zwar eine feine Sache sein möge. Sie berühre aber nur einen sehr kleinen Bereich der Prostitution. Wie das rechtlich im Einzelnen sinnvoll zu machen sei, müsse man sich noch einmal anschauen. Die Wirtschaftsminister der Länder wehrten sich bisher einhellig gegen eine Verankerung in der Gewerbeordnung.

Als nächstes sprach Sibyll Klotz über die Straßenprostitution im Kurfürsten-Kiez, speziell in der Kurfürstenstraße im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Diese hätte sich seit 2007 stetig verändert, insbesondere durch das Erotik-Kaufhaus LSD in der Kurfürstenstraße und die Osterweiterung der EU. Es kämen nun andere Prostituierte als zuvor. Viele von ihnen seien bildungsfern und gesundheitlich nicht aufgeklärt – in einem Maße, das Klotz kaum für möglich gehalten hätte. Darüber hinaus stünden sie unter einem hohen psychischen Druck. Viele der Frauen an der Kurfürstenstraße seien Roma-Frauen.

(Kommentar) Es sei hier erwähnt, dass an dieser Stelle aus dem Publikum der Einwand kam, dass Roma-Frauen keine homogene Gruppe seien. Diese Art der Darstellung der Roma-Frauen sei ausländerfeindlich motiviert. Es entspräche nicht der Realität, dass die Roma alle Opfer von Zwang und Gewalt seien.

Klotz entgegnete, dass die Beschreibungen des Milieus, die sie zitiert hatte, ausschließlich von StraßensozialarbeiterInnen stammten, die in ihrem Bezirk arbeiteten. Bei allem Verständnis müsse man dann auch die Realität zur Kenntnis nehmen. Es dürfe keine Denkverbote geben. Auf meine spätere Anfrage stellte Klotz klar, dass sie nicht über alle Roma-Frauen gesprochen habe und überhaupt nicht der Ansicht sei, dass diese alle Opfer von Zwang und Gewalt seien.

Die Veränderungen der letzten Jahre hätten u.a. zu einem Preis-Dumping geführt, zu vermehrtem Sex ohne Kondom, und zu „erniedrigendem Sex“. (Klotz erklärte später, dass sie den Begriff „erniedrigender Sex“ selbst für nicht besonders gelungen hielt. Sie wollte auf den Zusammenhang hinweisen, dass, je weniger stark die Position einer Sexarbeiterin sei, sie umso mehr bereit sei, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würde. Das reiche vom Sex ohne Kondom bis zur zur Einwilligung des gemeinsamen Drogenkonsums und ähnlichem.)

Klotz fuhr fort und erläuterte den Ablauf der Straßenprostitution und die damit einhergehenden Probleme im Kiez. Nicht nur aufgrund des Lärms, sondern insbesondere auch ob der nahe gelegen Einrichtungen seien diverse Programme gestartet worden, um die negativen Folgen der Straßenprostitution auf ein Minimum zu reduzieren, insbesondere dort, wo Kinder und Jugendliche betroffen seien. Klotz zufolge seien sowohl die Ansichten der AnwohnerInnen zu berücksichtigen, womit sie nicht die dummen und demagogischen meinen wollte, als auch die der SexarbeiterInnen. „Wenn man nicht beide wichtig nimmt, wird man die Veränderung in der Gesellschaft nicht herbeiführen.“

Durch die Stadtveränderungen in den letzten Jahrzehnten sei der Raum, der früher für den Vollzug benutzt wurde, nun anderweitig genutzt, und daher finde die Prostitution nun in Wohnungsnähe statt. Ca. 200 Freier seien täglich im Kiez unterwegs, in Spitzenzeiten sogar bis zu 600. Ungefähr 40 Frauen arbeiteten im Kiez, die im Schnitt ca. 5 Kunden am Tag bedienten. Der Kiez sei ein heterosexueller Straßenstrich, in dem Frauen und Mann-zu-Frau Transsexuelle arbeiteten, die im Normalfall zwischen 18 und 35 Jahre alt seien. Minderjährige oder Prostituierte über 50 Jahren seien eine Seltenheit. Die meisten blieben nur vier bis sechs Wochen und zögen dann weiter. Zum Ende ihrer Einlassungen nahm Klotz wie folgt Stellung.

„Ich glaube, dass unterm Strich Regeln statt Sperrbezirke die Antwort sein sollten. Einen Sperrbezirk wird es in Berlin nicht geben. Es gibt die politischen Mehrheiten dafür nicht, und das ist auch gut so.“ – Sibyll Klotz

Und zum Thema der Wohnungsprostitution fügte sie an, diese sei „nicht per se störend“.

Zuletzt war nun Christiane Howe an der Reihe, die über das Projekt „Nachbarschaft und Prostitution“ referierte. Die Studie, woraus das Projekt entstand, sei vom damaligen Bürgermeister noch vor der Wahl in Auftrag gegeben worden mit den Worten, „Ich solle mal machen.“ Was Frau Howe machen wollte, war, in den Bezirk zu gehen und die Leute selbst zu befragen, wie sie dort lebten und arbeiteten, was sie schwierig fänden und welche Vorschläge sie hätten, um die Situation zu verbessern.

Die Aufregung sei bei vielen groß gewesen. „Wenn wir diese Energie nur nutzen könnten!“, fügte Howe an. Mit manchen der anfangs Befragten hätte man gute Diskussionen führen können, andere traten bei einem Kiezspaziergang hinzu, und so hatte sich das Ganze dann nach dem Schneeballprinzip verselbständigt. Waren anfangs ca. 8-10 Interviews geplant, wurden am Ende 60 Interviews mit insgesamt 76 Menschen durchgeführt, darunter Anwohner, Schulvertreter, Vertreter von Kindertagesstätten, der Gemeinde, Politik und Verwaltung, sowie Mitarbeiter der Polizei und Präventionsteams, und auch Prostituierte. 43 Fragebögen seien ausgewertet worden, was mit 39% einer für derartige Umfragen überdurchschnittlich hohen Rücklaufquote entsprochen hätte.

Als große Hauptproblematiken wurden erstens die Lärmbelästigungen, vor allem nachts, und als zweites die Verschmutzungen genannt. Bei manchen Beschreibungen hätte es sich aber nicht selten um Anekdoten gehandelt, die manchmal bis zu 15 Jahre zurückgelegen hätten. Da sei vielleicht die junge Tochter in einer Form belästigt worden, die inzwischen längst erwachsen sei. So hätten auch manch andere Berichte den Charakter von „Stille-Post-Geschichten“ gehabt. Viele seien u.U. durch Medienberichte beeinflusst gewesen. Es bestehe auch das Phänomen der „Ekel-Lust“. Mit manchen Prostituierten, die neu aus Rumänien oder Bulgarien gekommen seien, gab es Verständigungsschwierigkeiten.

Für manche der Befragten war es schwer den zweiten Schritt zu gehen und sich zu überlegen, wie man die Lage verbessern könnte. Die einen schlugen Sperrzeiten vor, andere Sperr-Regionen, und wiederum andere hatten sehr kreative Ideen zur besseren Gestaltung der öffentlichen Räume. Prostituierte sollten nicht um diese oder jene Uhrzeit dastehen, oder sie sollten nicht hier, sondern dort stehen. Gemeinsam sei anhand eines grossen Lageplans des Viertels darüber diskutiert worden. Frau Howe beschloss mit der nachfolgenden Aussage die zweite Diskussionsrunde.

„Es ist ein Gewerbe. Es ist Straßenprostitution. Die hat eine bestimmte Form wie sie strukturiert und aufgestellt ist. Man sollte sich das sehr genau anschauen, die Orte der Anbahnung und des Vollzugs, und dann Gedanken darüber machen, wie man das aktiv gestalten kann. Auch wenn die Umsetzung in den Bezirken stattfindet, gehen die Überlegungen und Diskussionen darüber ein ganzes Stück nur mit einer Landesunterstützung.“ – Christiane Howe

Mit einer Person wie beispielsweise Frau Zimmermann-Schwartz in der Landesregierung wäre hier in Berlin viel zu erreichen, fügte sie hinzu. „Das Thema fällt einem extrem schnell auf die Füsse. Und nicht nur das, es wird gerade auch Politikern schnell um die Ohren gehauen.“

Zuletzt seien noch einige Kommentare in der abschließenden Diskussion erwähnt.

Eine Frau sprach die Situation von Roma-Frauen an, die durch existenzielle Not zu unterirdischen Preisen sexuelle Dienstleistungen anböten. Den Druck und die Gewalt, denen diese ausgesetzt seien, müsse man dringend berücksichtigen.

Darauf folgte der oben erwähnte Einwand aus dem Publikum, dass Roma-Frauen keine homogene Gruppe darstellten. Eine andere Frau, die neben mir saß, wandte sich mir zu und fügte an, dass man aber auch die Situationen dieser Frauen in ihren jeweiligen Herkunftsländern sehen müsse, denn die sei u.U. auch nicht unproblematisch – eher im Gegenteil.

Frau Zimmermann-Schwartz meldete sich nochmals zu Wort und meinte, es sei wichtig, nicht immerzu zu sagen, wo Prostitution nicht stattfinden dürfe, sondern positiv, wo sie stattfinden sollte. Die Sperrbezirksverordnung sei für sie nicht so wichtig – wichtig sei das Aufzeigen von Orten. In der Stadt Essen gäbe es beispielsweise ein ehemaliges Kirmesgelände, das dementsprechend ausgestattet worden sei. Dorthin gäbe es sogar eine gute Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Frau Klotz fügte hinzu, dass Menschenhandel das eine Ende des Spektrums darstelle und die freiwillige Prostitution das andere. Dazwischen gäbe es viele Schattierungen. Die Legalisierung sei absolut richtig gewesen und man müsse hoffen, dass niemand auf die Idee käme, das nun rückgängig machen zu wollen.

„Wir müssen den Weg weitergehen. Ich meine auch, es hat sich in den letzen 20 Jahren etwas verändert.“ – Sibyll Klotz

Vor 20 Jahren noch hätten mindestens die Hälfte von Befragten für Sperrbezirke plädiert. Heute wären nur noch eine Minderheit der Menschen für diese Lösung. Man müsse die Prostitution steuern, was aber nicht mit Hilfe des Ordnungsrechts zu tun sei, sondern mit flexiblen Verabredungen, die sich den lokalen Gegebenheiten anpassten. Was nicht stimme, so Klotz weiter, sei, „dass wir weggucken“. In der Presse hätte z.B. die Befragung der Bevölkerung keinerlei Resonanz gefunden.

(Kommentar) Hierzu sei erwähnt, dass die deutsche Presse meinem Kenntnisstand zufolge sogar das Sex Workers‘ Freedom Festival, die offizielle Alternative AIDS-Konferenz im Juli diesen Jahres, komplett ignorierte, obwohl diese die grösste SexarbeiterInnen-Konferenz aller Zeiten war und per Videolink mit der AIDS-Konferenz in Washington verbunden war. Die Pressezunft muss sich hier in der Tat vorwerfen lassen, über Prostitution nur dann zu berichten, wenn sie sich davon einen höheren Verkauf ihrer Auflagen verspricht, d.h. wenn die Sensationslust der Leser damit zu befriedigen ist. 

Frau Howe fügte ihren Ausführungen noch hinzu, dass sie die Unkenntnis der Anwohner über die Rechtslage als erschreckend empfand. Viele dächten, die Prostitution sei in Deutschland noch immer illegal. Eine bessere Aufklärung der Bevölkerung sei hier dringend notwendig. Das hätte nichts damit zu tun, ob sie dafür oder dagegen sei. Es sei nun einmal die Rechtslage und die sollte den Bürgerinnen und Bürgern bekannt sein.

Volker Beck nahm wenig später dazu Stellung und erklärte, dass das ProstG 2002 nur im Gegenzug für das Mittragen einer anderen Gesetzesinitiative der damaligen Justizministerin abgerungen worden sei. „Natürlich macht ein Ministerium danach keine Hochglanzbroschüren und Plakate, wenn der Gesetzgebungsvorgang so von statten gegangen ist.“

Die letzte Frage aus dem Publikum zielte darauf, ob das ProstG den Menschenhandel gefördert hätte. Hierzu antwortete Frau Zimmermann-Schwartz, dass der Runde Tisch in seiner übernächsten Sitzung dieser Fragestellung mit Expertenwissen nachgehen werde. Sie schloss mit dem Appell, dass es nach ihrer Erfahrung am Runden Tisch stets die größten Aha-Erlebnisse über die Realitäten in der Prostitution gegeben habe, wenn SexarbeiterInnen selbst von ihren Erfahrungen berichteten. „Da brechen innere Kartenhäuser zusammen mit lautem Getöse.“  Sie werbe dafür, dass Prostituierte selbst offen für ihre Belange eintreten – „wir können das nur stellvertretend!“

Zum Ende gaben Volker Beck und Monika Lazar zwei Abschlussstatements ab.

Volker Beck rief dazu auf, sich auch immer daran zu erinnern, was bereits erreicht worden sei, damit man die Kraft habe für die nächsten Kämpfe. In der grünen Fraktion werde aktuell an einem Antrag zum Thema Gewerberecht gearbeitet. Er sei dankbar für Hinweise auch außerhalb von Veranstaltungen wie dieser. Sollte der Vorstoß, das Gewerberecht anzuwenden scheitern, dann müsse das ProstG eben weiter ausgestaltet werden. Vertiefte Debatten zu führen und die Gesellschaft bei diesem Thema mitzunehmen, sei zwar richtig und gut. So funktioniere Politik aber natürlich nicht immer, wie das Beispiel des Gesetzgebungsvorgangs des ProstGs gezeigt hätte. Man könne nicht immer warten, bis auch der oder die Letzte informiert und an Bord sei.

Monika Lazar fügte an, dass noch in dieser Wahlperiode Pläne in der grünen Bundestagsfraktion vorbereitet würden, um vorbereitet zu sein, wenn die Mehrheitsverhältnisse sich nach der Bundestagswahl ändern würden. In dieser Legislaturperiode würden von Koalitionsseite wohl keine Vorschläge mehr kommen. Die Behauptung, das ProstG fördere den Menschenhandel, sei ein Argument, das immer wieder auftauche. Beim Thema Menschenhandel schrien die Konservativen immer am lautesten, doch da wo sie etwas bewirken könnten, z.B. beim Bleiberecht, täten sie nichts.

Damit endete die Veranstaltung.

*** Ende ***

Über den Autor:

Matthias Lehmann, Jahrgang 1973, ist gebürtiger Berliner. 2001 verlegte er seinen Lebensmittelpunkt zunächst nach Großbritannien, wo er an der School of Oriental and African Studies studierte. Später folgten längere Studien- und Forschungsaufenthalte in Südkorea und Thailand. Zuletzt verbrachte er ein weiteres Jahr in Südkorea, um dort im Rahmen seines unabhängigen Forschungsprojekts die Auswirkungen des koreanischen Anti-Prostitutionsgesetzes auf die Menschenrechte von SexarbeiterInnen zu untersuchen. Im Juli nahm er am Sex Workers‘ Freedom Festival in Kalkutta teil, der bislang weltweit grössten SexarbeiterInnen-Konferenz, die vom Global Network of Sex Work Projects (NSWP) aus Protest gegen den Ausschluss von nicht in den USA lebenden SexarbeiterInnen von der Internationalen AIDS Konferenz in Washington organisiert wurde.

Genauere Informationen über das Forschungsprojekt Korea finden Sie unter www.researchprojectkorea.wordpress.com.

Via Facebook und Twitter verbreitet Matthias Lehmann auch Informationen, die SexarbeiterInnen ausserhalb Südkoreas betreffen.

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