10 Punkte Plan: Boote statt Frontex #FerriesNotFrontex

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Am 20. April veröffentlichten die EU-Innen- und AußenministerInnen einen 10-Punkte-Plan, um auf die tausenden Toten im Mittelmeer zu reagieren. Viele weitere Vorschläge wurden in den letzten Tagen gemacht. Als AktivistInnen beteiligen wir uns seit vielen Jahren an den Kämpfen gegen das Europäische Grenzregime. Durch „Watch the Med“ und das „Alarm Phone“-Projekt stehen wir täglich mit hunderten Menschen in Kontakt, die das Mittelmeer überquert haben. Angesichts der Scheinheiligkeit der „Lösungen“, die bisher vorgestellt wurden, sehen wir es als unsere Pflicht, die Unbrauchbarkeit des vorgestellten Plans aufzuzeigen und zu versuchen, einen alternativen Raum zur Reflektion und zum Handeln zu öffnen.

1.    Wir sind schockiert und wütend angesichts der jüngsten Tragödien im Mittelmeer, die alleine in der letzten Woche mindestens 1.200 Menschenleben gekostet haben. Wir sind schockiert, aber nicht überrascht über die beispiellose Zahl an Toten innerhalb weniger Tage. Wir sind wütend, weil wir wissen, dass, wenn es nicht zu einem grundlegenden Wandel kommt, noch viel mehr Menschen in diesem Jahr im Mittelmeer sterben werden.

2.    Wir sind auch wütend, weil wir wissen, dass das, was uns nun als „Lösung“ für diese unerträgliche Situation präsentiert wird, nur mehr vom gleichen bringen wird: Gewalt und Tod. Die EU hat angekündigt, die Triton-Mission von Frontex zu verstärken. Frontex ist eine Behörde zur Abwehr von Migration und Triton wurde mit dem klaren Ziel geschaffen, Grenzen zu sichern, nicht um Leben zu retten.

3.    Aber selbst wenn ihre Hauptaufgabe wäre, Leben zu retten, wie dies im Fall der humanitären Militäroperation Mare Nostrum im Jahr 2014 der Fall war, würde dies das Sterben im Mittelmeer nicht beenden. Jene, die nun ein europäisches Mare Nostrum fordern, sollten daran erinnert werden, dass selbst während dieser bislang umfangreichsten Rettungsaktion, die je im Mittelmeer stattgefunden hat, mehr als 3.400 Menschen im Meer umkamen. Ist diese Zahl für die europäische Öffentlichkeit akzeptabel?

4.    Andere Vorschläge beinhalteten etwa eine internationale Militäroperation in Libyen, eine Seeblockade oder die stärkere Verpflichtung für afrikanische Staaten, ihre eigenen Grenzen zu sichern. Doch die Geschichte der letzten 20 Jahre im Mittelmeerraum zeigt, dass jede Militarisierung der Migrationsrouten nur noch mehr Tote verursacht. Jedes Mal wenn eine Route nach Europa durch neue Überwachungstechniken und verstärkten Grenzschutz blockiert wurde, führte dies nur dazu, dass MigrantInnen gezwungen waren, längere und gefährlichere Routen zu wählen. Die jüngsten Tode im zentralen und östlichen Mittelmeer sind Resultat der Militarisierung der Straße von Gibraltar, der Kanarischen Inseln, der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei und mehrerer Grenzen in der Sahara. Der „Erfolg“ von Frontex bedeutete den Tod für tausende Menschen.

5.    Internationale Organisationen und PolitikerInnen aller Lager erklären nun, dass SchlepperInnen für die Toten im Mittelmeer verantwortlich seien. Mehrere prominente PolitikerInnen haben das Schleusen von MigrantInnen mit dem transatlantischen Sklavenhandel verglichen. Die Heuchelei scheint keine Grenzen zu kennen: Jene, die das Regime der Sklaverei aufrecht erhalten, verdammen die Sklavenhändler! Wir wissen sehr genau, dass die Schlepper, die im Kontext des libyschen Bürgerkriegs operieren, häufig skrupellose Kriminelle sind. Doch wir wissen auch, dass das europäische Grenzregime der einzige Grund ist, weshalb MigrantInnen sich ihnen ausliefern müssen. Die Schlepper-Netzwerke wären längst Geschichte, wenn jene, die jetzt im Meer ertrinken, Europa legal erreichen könnten. Das Visa-Regime, das dies unmöglich macht, wurde erst vor 25 Jahren eingeführt.

6.    Jenen, die jetzt einmal mehr die Einführung von Asylzentren in Nordafrika fordern, sollten zwei Beispiele in Erinnerung gerufen werden, um zu verstehen was solche Zentren tatsächlich bedeuten würden. Das erste Beispiel ist das Camp Choucha in Tunesien, betrieben vom UNHCR, der Menschen, die vor dem Konflikt in Libyen dorthin flohen, im Stich gelassen hat. Sogar jene, deren Status als Schutzbedürftige anerkannt wurde, wurden in der tunesischen Wüste zurückgelassen. Sie hatten gar keine andere Wahl als zu versuchen, das Meer zu überqueren. Das zweite Beispiel sind die ausgelagerten Anhaltezentren, die von Australien auf abgelegenen „Gefängnisinseln“ geschaffen wurden und die nun von vielen als Vorbild für Europa gepriesen werden. Sie zeigen, wie abscheulich die Zwangsinternierung von Asylsuchenden sein kann. Diese „Lösungen“ dienen ausschließlich dazu, die Gewalt des europäischen Grenzregimes vor den Augen der westlichen Öffentlichkeit zu verbergen.

7.    Was ist angesichts dieser Situation zu tun? GenossInnen und FreundInnen, mit denen wir die Kämpfe der letzten Jahre gemeinsam geführt haben, fordern Bewegungsfreiheit als einzige realistische Antwort in dieser Situation. Auch wir machen uns diese Forderung zu eigen, denn sie ist die einzige, die es geschafft hat in einer erstickenden Debatte einen Raum der politischen Vorstellungskraft offen zu halten. Doch zugleich denken wir, dass ein allgemeiner Aufruf für die Bewegungsfreiheit in dieser Situation nicht genug ist. Für uns ist Bewegungsfreiheit keine ferne Utopie, sondern eine Praxis – die von MigrantInnen täglich, unter Einsatz ihrer Leben, umgesetzt wird –, die unsere politischen Kämpfe hier und jetzt anleiten sollte.

8.    Aus diesen Gründen fordern wir die Einsetzung einer humanitären Fähre, die nach Libyen fahren und so viele Menschen wie möglich evakuieren soll. Diese Menschen sollten nach Europa gebracht werden und bedingungslosen Schutz erhalten, ohne dass sie einen Asylprozess durchlaufen müssen, der seinen ursprünglichen Zweck des Schutzes längst verloren hat und de facto zu einem weiteren Instrument der Exklusion geworden ist.

9.    Ist die Idee einer solchen Fähre unrealistisch? 2011, am Höhepunkt des libyschen Bürgerkriegs, retteten humanitäre Fähren tausende gestrandete Menschen von Misrata bis Benghazi. Dabei wurden sie mit Granaten und Gewehren beschossen und mussten Seeminen ausweichen. Dies zeigt, dass es selbst in der gegenwärtig instabilen Lage in Libyen möglich wäre, eine solche Aktion durchzuführen. Zudem wäre eine Fähre weitaus billiger als eine mögliche massive Rettungsaktion auf hoher See oder jede militärische Lösung.

10.    Die Realität ist, dass jede andere der vorgeschlagenen Lösungen dazu führen wird, dass weiterhin Menschen im Meer umkommen. Wir wissen, dass keine Auslagerung von Asylzentren und Grenzkontrollen, keine Ausweitung der Rettungsverpflichtung, keine Intensivierung der Überwachung und der Militarisierung das Massensterben im Meer beenden wird. Alles, was wir dafür kurzfristig brauchen, sind legale Einreisemöglichkeiten und Fähren. Werden die EU und die internationalen Behörden bereit sein, diesen Schritt zu gehen, oder wird die Zivilgesellschaft es für sie machen müssen?

Watch the Med ist ein transnationales Projekt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Verletzungen der Menschenrechte von MigrantInnen durch das EU-Grenzregime sichtbar zu machen. 2012 aus der Kampagne Boats4People entstanden, umfasst das Projekt heute ein weites Netzwerk von Organisationen, AktivistInnen und ForscherInnen.
Diese Erklärung wurde erstmals am 23. April auf Englisch hier veröffentlicht und auf Deutsch auf mosaik-blog.at.

Übersetzung: Benjamin Opratko

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Fluchthilfe ist kein Menschenhandel

Autor: Christian Jakob 

Nur mit Hilfe von Schleppern kommen Menschen, die Asyl beantragen wollen, noch in die EU – dafür hat das Europäische Grenzregime selber gesorgt. Gleichwohl bestraft es Fluchthelfer immer härter und treibt so viele Menschen in den Tod.

Ein Boot mit Geflüchteten vor der Insel Lampedusa. Foto: Vito Manzari. Creative Commons LizenzvertragDieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

Im Gerichtssaal von Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos, 13. Oktober 2014, 9 Uhr. Der Angeklagte: Ahmad, ein minderjähriger Flüchtling aus Aleppo in Syrien. Im Mai dieses Jahres kam er mit 22 Menschen auf einem Boot von der türkischen Küste. Der Vorwurf: Menschenhandel. Fünf Monate hat er im Avlona-Gefängnis für Minderjährige in Athen auf den Prozess gewartet. Prozessbeobachter der Initiative „Welcome to Europe“ sehen, wie Ahmad in Handschellen gefesselt ins Gerichtsgebäude geführt wird. Küstenwächter sagen aus: Als sie sich dem Boot näherten, habe Ahmad telefoniert, Papiere zerrissen und ins Wasser geworfen. Dabei müsse es sich um Anweisungen seiner Hintermänner gehandelt haben, mit denen er offensichtlich gerade gesprochen habe. Weitere belastende Indizien gibt es nicht. Ahmad sagt aus, er habe seine Mutter angerufen. Nach 20 Minuten verkündet das Gericht das Urteil: sieben Jahre Haft.

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Effektiv, human, nachhaltig: Wer von Prostitution redet, darf von Abschiebungen nicht schweigen

Autor: Thomas Schroedter. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 589 / 17.12.2013

Die Maßnahmen zur Regulierung der Zuwanderung in die EU werden durch Aufrüstung und eine verbesserte Kommunikation zwischen den Staaten und der Grenzagentur Frontex zunehmend effektiver gestaltet. Scheinbar unabhängig davon werden aktuell in mehreren EU-Ländern Gesetze zur Regelung der Prostitution bis hin zum Verbot verschärft. Dabei stellt die Überwachung der Prostitution eine zusätzliche Maßnahme zur Migrationskontrolle dar.

Dies wird deutlich, wenn wir den Umfang des Anteils an migrantischer Sexarbeit betrachten. Z.B. besitzen in Frankreich 80 Prozent der Sexarbeiterinnen keinen französischen Pass, und in Berlin stellen Polinnen, Russinnen und Ukrainerinnen das größte Kontingent. Wie die Autorin und ehemalige Sexarbeiterin Lilli Brand schreibt, würden diese Frauen ihre Tätigkeit zu Hause »als Job im Sexbusiness begreifen, hier ist es jedoch eher ein Sprungbrett. Und ihr Problem ist dabei nicht die Anerkennung als Prostituierte, sondern Visum, Arbeitserlaubnis, Scheinehemann und so weiter«. (1)

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Wir sind alle Migrant_innen! – 18. Dezember: Internationaler Tag der Migranten (International Migrants Day)

„When their rights are violated, when they are marginalized and excluded, migrants will be unable to contribute either economically or socially to the societies they have left behind or those they enter. However, when supported by the right policies and human rights protections, migration can be a force for good for individuals as well as for countries of origin, transit and destination.“ UN-Generalsekretär Ban Ki-moon

International Migrants Day
International Migrants Day

Im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen den Internationalen der Migranten eingeführt. Anlass dafür war die stetig wachsende Zahl an Menschen, die nicht an ihrem Geburtsort ihr Leben führen.  Das Ziel: Die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten von Migrantinnen und Migranten zu schützen und  auf ihren positiven Beitrag in den Zielländern hinzuweisen. Ein wenig salopp gesagt – das Ziel ist es, Migration positiv zu konnotieren.

Das versucht auch die EU-Kommissarin für Innenpolitik.

„On the occasion of International Migrants Day (Sunday 18 December), let me reiterate that the diversity brought by immigrants is a source of dynamism and of cultural richness for our economies and societies.

Europe is changing. We cannot afford to ignore the role immigration plays for our growth and for European competitiveness in the global arena – Migrants contribute to the economies of their receiving countries, as employees, entrepreneurs, consumers and investors, while increasing the diversity of our societies.“ Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Innenpolitik

Sie schreibt über den positiven Beitrag von Migrant_innen für „unsere“ Gesellschaften. Der Versuch ist lobenswert, aber sie rutscht dabei in ein Muster, das einer positiven Darstellung von Migration eher im Wege steht. Sie spricht von „ihnen“ und „uns“  und merkt dabei nicht, dass sie selbst zur Zeit nicht an ihrem Heimatort arbeitet, sie merkt nicht, dass sie selbst Politiken für Orte und Menschen macht, die hunderte oder tausende Kilometer von ihrer nordischen Heimtstadt entfernt sind. Sie hat vergessen, dass Europa der Inbegriff freier Bewegung – also der Migration – ist. Sie macht den Fehler, nur eine kleine Gruppe der Migrant_innen tatsächlich als solche anzuerkennen – also jene Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens und ihres sozio-ökonomischen Status auch diskriminiert werden. Migrant_innen sind die Anderen, aber nicht wir – das ist ihre Botschaft, eine falsche Botschaft. Denn wir sind alle Migrant_innen. Ist sie, Frau Malmström, nicht auch eine  Migrantin?

“We are all migrants and as such are contributing to the global economy and to global cultural diversity,” he noted. “How many of us live today in the city of birth of our four grandparents? Not many. We are all children, grandchildren or great-grandchildren of migrants. Rare are those who have settled in one and the same place for numerous generations.” François Crépeau, Special rapporteur on the human rights of migrants

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Lebensgefährliche Flucht aus Nordkorea

Im Jahr 2009 veröffentlichte der WDR einen Dokumentarfilm, der die lebensgefährliche Flucht vieler Nordkoreaner_innen aus dem Grenzgebiet von Nordkorea und China thematisiert. Alexandre Dereims, Hark Jun Lee und In Taek Jung haben hierfür eine Gruppe nordkoreanischer Flüchtlinge auf ihrem Fluchtweg bis nach Thailand (Bangkok) begleitet, oftmals riskierten sie dabei ihre eigene Sicherheit (wie ein Fall zweier amerikanischer Journalistinnen verdeutlicht).

Der Kollaps der nordkoreanischen Wirtschaft Anfang der 1990er Jahre, der mit einer Hungersnot einherging die schätzungsweise 2 Millionen Menschen das Leben gekostet hat (Filmpart: 1), veranlasste Tausende die Flucht nach China und darüber hinaus zu wagen (International Crisis Group 2006: 1). Hunger und Armut sind auch heute noch die hauptsächlichen Push-Faktoren bzw. Gründe und Ursachen für die Flucht vor der nordkoreanischen Diktatur, die ihre Bevölkerung gefangen hält (vgl. ICG 2006: 8). Einem UNO-Bericht vom Oktober 2009 zufolge benötigen neun Millionen Nordkoreaner_innen, d.h. mehr als ein Drittel der Bevölkerung, Hilfe in Form von Lebensmitteln. Jedoch erreicht das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen nur zwei Millionen Menschen (vgl. Amnesty International).

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